Sommer, Sonne, Strand und Meer? In Judith Klemenc’s Artist Residency im portugiesischen Guimarães weht der Wind in eine andere Richtung: Sommerfrische macht Platz für die künstlerische Aufarbeitung von Erfahrungen der Diskriminierung. Zu diesem Zwecke hat Klemenc im Rahmen ihres von Magic Carpets organisierten Aufenthalts eine Installation in Zusammenarbeit mit ehemaligen Textilfabriksarbeiter:innen kreiert. Gemeinsam mit der Künstlerin lag es an ihnen, die ihnen aus dem Textilbetrieb vertrauten Fäden neu und anders in den (Ton)Boden zu legen, um gleichsam Autor:innen der eigenen Geschichte zu werden.

Kolossal kommt Judith Klemenc´s in Guimarães aufgebaute Installation daher, doch gleichzeitig sanft und verletzlich: Die milchweißen Fäden, die im hinteren Teil eines rund 400m² großen Betonareals von der Decke hängen, suggerieren zunächst Geborgenheit. Einige der Fäden streifen den Boden, andere sind ganz im Schwebezustand begriffen. An Daunen erinnernde Ausfransungen bestärken den Eindruck. Insgesamt gleicht dieser Komplex aus Schnüren, Seilen, Fäden und Federn mit seinen Verdichtungen und Verhedderungen einem Schleier. Der Begriff des Schleiers in seiner Paradoxität trifft es hier gut, ein Schleier kann schließlich Schutz gewähren als auch die Wahrheit verbergen. Denn die in Portugal im Zuge der Residency entstandene Arbeit mit dem sprechenden Titel „BodySkin“ ist nicht so eitel Wonne wie sie zunächst scheint.
Man fühlt sich an die japanische Installationskünstlerin Chiharu Shiota erinnert, die mit ihren federleichten, dicht verwobenen Fadenkonstruktionen die Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen, auch in ihrer Schwere, im Raum erkundet. Fäden können sich verbinden und verknoten, sich aber auch verfangen und gar reißen. Nur hat sich in Klemenc Installation noch ein weiterer Objektkomplex hinzugesellt. Die Rede ist von einem Entrée aus am Boden liegenden, gestalteten Tonfliesen. Als Gegenpart zur symbolischen Schutzhaut – dem Schleier – bauen sich diese in mehr oder weniger loser Zuordnung auf. Sie bürden der Arbeit „BodySkin“– wobei der Ton den Körper und die herunterhängenden Fäden die Haut repräsentieren – ein Gewicht im physischen Sinn auf. Wieder sind es Fäden, doch ein diesem Falle in die Fliesen eingelegte und nicht mehr so unberührte. Bei genauerem Blick tragen sie tiefe Kerben in sich. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es sprichwörtlich, doch das trifft hier nur bedingt zu. Narben sprießen aus dem Körper raus. Ein glattes Fell hat bereits alles überdeckt. Die Wunden und Risse jedoch bleiben. Sie haben reliefartige Muster hinterlassen.
Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang die Entstehungsgeschichte dieser zweiteiligen Arbeit: Die unzusammenhängend am Boden liegenden Tonfliesen wurden nämlich von der Künstlerin in Gemeinschaftsprozess mit ehemaligen Textilfabrikant:innen gestaltet, die sich heute in einem Altersheim befinden. Sie waren es auch, die zu Spitzen verknüpfte Fäden in die Fliesen legten, auch als eine Art Aufarbeitungsprozess. Ihre Fließbandarbeit in der Vergangenheit war von traumatischen Erfahrungen und unmenschlichen Zuständen geprägt, die Installation spricht davon. Stück für Stück wurden die einzelnen Fliesen zu Art Inseln auf den Boden gelegt. Fäden stanzen sich so in der „Body“-Arbeit wie rohes Fleisch in den rohen Ton rein und hinterlassen einen Abdruck, der Geschichten offenbart. Fürsorglich, fast schon schützend geht Klemenc mit den Einschreibungen der Betroffenen in den Fliesen vor. Man merkt, dass ihr etwas anvertraut wurde, das Sensibilität bedarf: „Ich war sehr viel mit den Geschichten alleine und habe sie studiert. Die gelegten Spitzen werden dabei zu Zeichnungen. Sie fassen vieles, das sprachlos macht und reichen von Leid und Resignation, der Arbeit in Fabriken bis hin zu unermüdlichem Kampf und Lebensfreude. Selbst geschlechtsspezifischen Eigenheiten sind abzulesen. Legten Männer vornehmlich geometrische Muster, waren Frauen viel eher darauf bedacht, die Spitzen rund und weniger systematisch zu ordnen“, erzählt sie.
Die Fliesen wirken auf den ersten Blick kalt und kühl, sind aber in Wahrheit Träger und Generatoren von Emotionen. In diesem Sinne muten sie äußerst brüchig an. Auch wenn sie aufgrund ihrer eigentlichen Kompaktheit das menschliche Gewicht zweifellos aushalten, würde man sich kaum wagen, auf ihnen zu gehen. Wenn doch, rufen sie zur allerhöchsten Vorsicht auf. Auf metaphorische Ebene übertragen stellt sich hier die Frage des Umgangs der jüngeren Generation mit der älteren. Gerade weil er heute brutal mit den Fehlern der Vorfahren abgerechnet wird, ruft die Installation zu einem sanfteren Umgang untereinander auf. So ist in den Fliesen die Arbeit der Vorgeneration eingeschrieben, die behutsam begangen werden soll. In diesem Falle fungieren die Spitzen in den Fliesen dann als Lebensfäden, die die Ahnen den Nachkommen geben, sodass diese in ihre eigenen Häute schlüpfen.

Bis Anfang August dieses Jahres verweilte die Künstlerin in Guimarães, ihre Zeit war dabei intensiv, aber auch schockierend, wie sie es selbst beschreibt: „Die Altenheime in Portugal sind nochmals etwas ganz anderes als in Österreich. 100 Menschen sind 3 Pfleger:innen zugeteilt, die komplett apathischen Bewohner:innen des Heimes sind aufgestellt wie in einer Schulklasse vor einem Riesen-Fernseher. Nur ein Zehntel der Bewohnenden konnte tatsächlich mitarbeiten, auch wenn diese es mit großer Liebe und Begeisterung getan haben.“ Die Ausschreibung der Kunstprojektes war übrigens auch darauf bedacht, eine Künstlerin zu finden, die mit Textil und Ton, als auch mit Communitys arbeiten soll, in denen Menschen mit diskriminierenden Erfahrungen aus der Fabriksarbeit leben. Als Hintergrund muss man dabei den Umstand der Stadt als Hochburg der Textilindustrie berücksichtigen, die bis weit in die 1970er Jahre hinein den Menschen Arbeit und sicheres Grundeinkommen versprochen, aber auch falsche Hoffnungen und viel Leid in Form unmenschlicher Arbeitsbedingungen gegeben hat: „Die jüngere Generation will partout nicht in den Textilfabriken arbeiten, da sie die traumatisierenden Erfahrungen der Vorgenerationen mitbekommen haben. So ist eine Diskrepanz zwischen der älteren und der jüngeren Bevölkerung entstanden“, erklärt Klemenc. Auch heute noch prägen Textilfabriken den Ort. Klemenc verarbeitet Omnipräsentes zu einer immersiven Installation, wobei die Auswahl der Örtlichkeit an sich schon auf den Moment Bezug nimmt, die Augen vor der Realität der Vergangenheit nicht verschließen zu können. „Die Arbeit ‚BodySkin‘ befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Hauptplatz in einen riesigen Betonkomplex, der sich einem Hofgarten gleich auftut. Er ist eigentlich nicht zu verfehlen und liegt sehr präsent und unumgehbar im Ort“, so die Künstlerin.
Judith Klemenc Arbeitsweise war immer schon von Behutsamkeit geprägt. Leise, ruhig, doch mit subtilem Aufschrei, arbeitet sich die in Tirol geborene Kunstschaffende an Diskriminierungsprozessen ab. Feminismus und Klassismus sind Themen, die sich durch ihr Werk hindurch ziehen. Klemenc ist sowohl in der Objekt- als auch Video und Performancekunst tätig, wobei eine strikte Abgrenzung in ihrem Falle schwerfällt, da sie die Bereiche ineinanderfließen lässt. Paradebeispiel ist ihre 2022 entstandene Installation „dancer avec annie“ mit ineinander zu einem großen Knoten verschlungenen Körpern aus Watte, Gips und Strumpf, die sich erst auf den zweiten oder dritten Blick als Beine entpuppen. Wie knapp über den Boden tänzelnde, fast fliegende Kreaturen wirken die im Kontrast zu einem schwarzen, verknoteten Konvolut nach unten ragenden Füße, die ganz in weiß getüncht sind. Lediglich ein Bein kommt am Fundament an, zart tippt es mit dem großen Zeh auf den Boden. Der Farbkontrast untermalt dabei die Spannbreite und kennzeichnet Erfahrungen des Sprachlosen – ein Grundsujet der Künstlerin – die wie ein Knoten um den Körper sitzen und in Klemenc Werk ein Gewand verliehen bekommen. Quasi einer Haut gleich zieht es sich schützend über das Innere. Die Brücke zur aktuellen Installation in Guimarães ist hier nicht weit. „Dancer avec annie“ ist kein Einzelfall im Werk der Künstlerin. Arbeiten wie „AMEN“ spielen ebenso mit verschlungenen Körpern. Aus dem Körpergewirr am Boden strecken hier urplötzlich Arme mit Boxhandschuhen mit klaren Linien empor. Sie differieren in ihrer dunklen Erscheinung mit den weißen, weichen Strümpfen am Boden. Wie sie hin und her pendeln und sich überlagern, nur um dann wieder auseinander zu driften und ihr Eigenleben zu beginnen, zeigt abermals, wie Klemenc den Körper als emotionales Kraftfeld definiert. In ihrem Verständnis ist er kein starres Gebilde, sondern dynamisch, widersprüchlich und voller Leerstellen, die sich wie zwei Pole anziehen und wieder abstoßen. Auch „worlds“, eine Installation rund um das Gebären, die mittels Eierschalen die Ambivalenz von Brüchigkeit und Stabilität darstellt – das Brechen der Schalen bringt ja erst neues Leben auf die Welt – ordnet sich in diesen Kontext ein. Um nicht zuletzt zur Arbeit „wings“ zu gelangen, ein mit Federn übersätes Bett, das auf den Rassismus in den USA Bezug nimmt und in diesem Falle den Gewaltakt ungewöhnlich flauschig und daher noch erschütternder daherkommen lässt. Form und Inhalt widerstreben manchmal bewusst, auch weil das Leben selbst oft Eindeutigkeit verwehrt. Einmal markiert selbst die Zerstörung – wie beim Bruch des Eies – ein freudiges Erlebnis, dann wiederum kann selbst ein flauschiges Daunenmeer für eine Mordtat stehen. Klemenc bricht scheinbare Allgemeingültigkeiten auf.
Das haptische Gefühl in der immersiven Installation „BodySkin“ wird ganz in Analogie zu Arbeiten wie „dancer avec annie“, „AMEN“ oder „wings“ bereits allein durch das Auge getragen: Die Fäden umgeben einen wie Wolle – man spricht nicht zufällig vom Gewand als zweite Haut, die einen schützt, doch das Innere nie ganz verbergen kann und daher immer einen gewissen Grad an Verletzlichkeit mit offeriert. Diese Verletzlichkeiten legt Judith Klemenc in ihren Arbeiten offen. Nun hat sie, diesem Gedanken entsprechend, einen Weg gefunden, wie Menschen in Guimarães ihr widerfahrenes, noch stets omnipräsentes Leid abstreifen können. Das Legen der Fäden, das schon fast einem Ritus gleichkommt – in diesen Zusammenhang poppen sogar Verbindungen bis hin zu Künstler Wolfgang Laib und seinen Milchsteinen wie auch seiner zeremoniellen Handlung des Pollenpflückens und Reiskornlegens auf – hat hier ebenso existentielle Funktion. Mehr noch legt Klemenc den Fokus auf zwischenmenschliche Dialoge, die mal versöhnlich, mal kathartisch, andernorts auch zerstörerisch sein können. „BodySkin“ ist Beleg, wie die Künstlerin in die Arbeit an der Schwelle zwischen ihr selbst und anderer reinhorcht. So lange, bis sie zu dem vorrückt, was einzelne Worte und Sätze nicht imstande sind, auszudrücken.
| Florian Gucher
