Wenn sich eine Tür schließt, schließt sich eine andere – Verdrusskolumne von Sarah Caliciotti

„Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im großen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.“

Mascha Kaléko „Rezept“

Ständig passiert Schlechtes. Oft kann man einiges davon, das in einem bestimmten Zeitraum geschieht, unter einem groben Überthema zusammenfassen. Für mich war dieses Thema die letzten Monate betrachtend das der Bequemlichkeit. 

Wer sich Bequemlichkeit leisten kann, befindet sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Luxusposition. Und es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass jene Menschen, die sich in privilegierten Positionen befinden, diejenigen sind, die die größten Probleme in der Welt verursachen. Aber fangen wir zunächst auf einer sehr individuellen Ebene an. Bequemlichkeit ist zum Beispiel verantwortlich dafür, dass zwischenmenschliche Kommunikation stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Menschen wollen sich nicht mehr verhalten müssen, sich auf komplizierte Diskussionen einlassen oder sich erklären – sie scheuen die Konfrontation mit anderen, weil sie jene mit sich selbst schon scheuen. Stattdessen wird oftmals der Weg des geringsten Widerstand gewählt. Das Vermeiden von Kommunikation ist so inflationär geworden, dass es ein neues Wort dafür brauchte: Ghosting. Affären, Beziehungen, ja sogar jahrelange Freundschaften werden ohne ein Wort darüber zu verlieren „beendet“, um sich einer Reaktion zu entziehen. Dass das feige oder bequem anmuten könnte, stört aber nicht weiter, denn man muss sich ja als Ausübende:r dieser Praktiken nicht mehr mit der Situation auseinandersetzen, man verlässt einfach den Schauplatz. Ein Bekannter hat mir vor ein paar Monaten erzählt, er verstehe gar nicht, warum das Weglaufen so verschrien sei, er „feiere es absolut“. Wenn er wo nicht mehr sein wolle, laufe er eben weg. Er geht nicht mehr zur Arbeit, doch anstatt gleich zu kündigen, meldet er sich erstmal krank – monatelang. Er beendet seine Beziehung nicht, sondern zieht in eine andere Stadt und bricht jeglichen Kontakt ab. „Weglaufen ist super“, sagte er. Zumindest war er in diesem Moment mir gegenüber sehr ehrlich – was alle anderen, die etwas von seiner Praxis miterleben mussten, wohl nicht behaupten können.  

Wenn man sich einer Situation nicht stellt, weil man fürchtet, nicht mit den Reaktionen des Gegenübers umgehen zu können, geschieht das vielleicht, weil man nicht weiß, was jene Reaktionen mit einem machen. Vielleicht müsste man dann seine zurechtgelegte, kuschelige Wahrheit hinterfragen. Das erfordert Reflexionsvermögen. Lieber wählt man dann wahrscheinlich den Weg, der keinerlei Anstrengung sowie keinerlei Stellungnahme erfordert. Damit richtet man nicht nur Schaden bei anderen an, sondern es ist häufig vielleicht auch nicht der Weg, der einen selbst glücklich macht. Steht Bequemlichkeit etwa über dem persönlichen Glück? 

„Ich habe nie etwas anderes getan als zu warten vor verschlossener Tür.“

Als ich diesen Satz von Marguerite Duras gelesen habe, hat er mich getroffen wie ein Blitzschlag. Stehen die, die Konfrontation und Bekenntnisse zu was auch immer brauchen, wie die Luft zu Atmen, lebenslang vor der verschlossenen Tür derer, die genau das den anderen, aber auch sich selbst verwehren? Ist es uns, die wir früh lernen, dass Liebe etwas mit Schmerz zu tun hat – denn nichts anderes als Schmerz ist es, wenn uns ohne Erklärungen, ohne tatsächliche Anwesenheit oder aufrichtige Kommunikation begegnet wird – auf ewig nur möglich, zu lieben, was uns schmerzt? Was wäre, wenn wir ohne diese Verknüpfung von Liebe und Schmerz aufgewachsen wären? Was wäre, wenn unsere Väter und Großväter sich bemüht hätten, uns ein anderes, vielfältigeres und gesünderes Bild von Männlichkeit, Liebe und damit auch zwischenmenschlichen Beziehungen zu vermitteln, anstatt zu traumatisieren? Warteten wir dann vielleicht längst nicht mehr vor verschlossenen Türen?

So oft bin ich Menschen begegnet, die sich vor einem möglicherweise in der Zukunft entstehenden Problem lieber von vornherein verstecken – zu einem Zeitpunkt, wo es noch gar nicht vorhanden ist. Es geschieht ein Rückzug, noch bevor erkannt wurde, wovor genau. In Bezug auf die erwähnte Verknüpfung stellt sich hier die Frage: Haben diese Menschen Vermeidung als Haltung gewählt, weil sie auf die Liebe verzichten, um dem Schmerz zu entgehen? Würde daraus womöglich folgen, dass es in diesen Belangen gar keine Schuldigen gibt? Sondern wir alle, die Vermeidenden und die, denen Konfrontation verwehrt wird, vor verschlossenen Türen warten?

Foto: Sarah Caliciotti

Sprechen wir nun von den weitreichenderen Folgen der Bequemlichkeit: denen auf gesellschaftlicher Ebene. 

Auch hier ist in den letzten Jahren und insbesondere Monaten ein eindeutiger Trend zu beobachten: Wir begegnen den Problemen, die der Kapitalismus verursacht, mit kapitalistischen Gegenmaßnahmen. Wir versuchen feministisch zu sein, indem wir Stars feiern, die von sich behaupten, sie seien feministisch. Wir sind antirassistisch, weil wir T-Shirts kaufen, auf denen „F*ck Nazis“ steht. Wir kaufen bestenfalls biologische, regionale Produkte, um den Klimawandel entgegenzuwirken. Wir kaufen und kaufen und kaufen, wir fliegen und essen Fleisch und wir machen immer weiter in dem Glauben, dass unser Innovationsgeist sicher irgendwann etwas erfinden würde, das Konsum noch nachhaltiger, nachhaltig genug (!) machen würde. 

Es ist so eine Sache mit den Trends. Ich war immer eine Befürworterin dessen, dass sich zum Beispiel so etwas wie „ein Trend in Richtung Feminismus“ abzuzeichnen begann – solange das Richtige getan wird, ist es nicht so wichtig, warum es getan wird und so weiter. Und mir ist hundertmal lieber, Taylor Swift wird heroisiert anstatt Andreas Gabalier. Vielleicht wird es dann irgendwann alltäglich, feministisch zu sein, und tabuisiert, es nicht zu sein, so hoffte ich. Das Problem dabei ist aber, dass sich die Menschen darauf auszuruhen scheinen. Denn obwohl Feminismus, Sexismus, Gewalt gegen Frauen*, Frauenrechte* beispielsweise mehr Raum in der medialen Öffentlichkeit finden als jemals zuvor, ist im Vergleich dazu relativ wenig passiert. Und je mehr ich mich von Menschen umgeben sah, die vermeintlich mitdachten und denen es ist nicht egal war, desto unverständlicher wurde mir, warum sich bloß so wenig wirklich veränderte. Schließlich kam ich nicht umhin, zu befürchten: Lag es vielleicht gerade daran, dass wir uns auf diese Weise damit beschäftigten? Haben die Menschen womöglich das Gefühl, genug zu tun, wenn sie T-Shirts mit der richtigen Aufschrift kaufen? 

Das wäre fatal, denn so würden die einst so verlockenden Trends genau das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich aussagen. Und es wäre natürlich die bequemere Variante, als auf Demos zu gehen, aufzuschreien oder schlichtweg zur Wahl zu gehen. 

Es stellt sich weitergedacht also die Frage, ob das symbolisch gesprochene Feminismus-Shirt nicht ein wesentlicher Teil dessen ist, was gegen den Feminismus arbeitet – nämlich des Kapitalismus. Denn der ist es doch, der eine vermeintliche Leistungsgesellschaft generiert à la „Wenn du nur tüchtig genug arbeitest, bekommst du auch deinen gerechten Lohn, wenn du nichts hast, bist du selber Schuld“. Der Kapitalismus ist es, der uns nach mehr streben lässt, mehr Wohlstand, der aber auch mehr Armut generiert, denn Wohlstand steht immer auf dem Rücken von Ausbeutung. Und diejenigen, die mehr verdienen, öfter in Führungspositionen sind, weniger unbezahlte Care-Arbeit leisten und eher die Möglichkeit haben, ihrer Karriere nachzugehen, sind meistens Männer*. Diejenigen, die sich häufiger in Abhängigkeitsverhältnissen befinden, sind hingegen Frauen*, also sind weitergedacht die, die vom Kapitalismus profitieren, zumeist nicht sie.  

Warten Frauen* so grundsätzlich ihr Leben lang vor den verschlossenen Türen des Systems? 

Der Kauf des Feminismus-T-Shirts ist ein kleines Teilchen im Kapitalismus-Rad, das sich kontinuierlich weiterdreht, bis die Ressourcen verbraucht sind. Alice Hasters meint dazu: „Mit der Abschaffung des Kapitalismus wäre das Patriarchat wahrscheinlich noch nicht besiegt. […] Doch ohne Kapitalismus hätten Geschlechtsidentitäten ganz andere Ausgangspunkte. Was wäre, wenn wir Emanzipation nicht in der Arbeit, sondern in der Fürsorge füreinander finden würden? Was wäre, wenn Fürsorge nicht an Weiblichkeit geknüpft wäre, sondern von allen ausgeht und für alle zur Verfügung steht? Vielleicht ergeben sich dadurch neue, bessere Identitäten – die den Bedürfnissen der Zeit gerecht werden würden.“ 

Was einst kritisch begann, wurde letztlich undifferenziert und undifferenziertem Urteilen liegt wiederum zumeist Bequemlichkeit zugrunde. Das trifft auch auf das neue Lieblingsproblem der Linken zu: Die Kluft zwischen denen, die aus „Identitätspolitik“ einen Kampfbegriff machen, der jegliche Versuche und Strategien zu Antidiskriminierung und Repräsentationen von Menschen gleich einmal als „übertrieben“ plattwälzt, und denen, die keinen Zweifel und keine Kritik an identitätspolitischen Strategien zulassen. Zumindest nicht ohne, dass Kritiker:innen als Rassist:innen oder Sexist:innen bezeichnet werden und sich auf die Menschen stürzen, die sich für etwas einsetzen – aber eben nicht für das vermeintlich Richtige oder nicht genug oder nicht auf die scheinbar richtige Weise. 

Beide Seiten scheinen es zu anstrengend zu finden, sich mit dem auseinanderzusetzen, das unter der Oberfläche brodelt und bewegen sich lieber nur in dem Feld, das sie allzu gut beherrschen: das augenscheinliche Kritisch-Sein, das ja tatsächlich sehr löblich und wichtig ist, nur – einfach nur kritisch sein allein um des Kritisch-Seins Willen ohne noch Kapazitäten zu haben, die Augen auf das zu richten, das tatsächlich unbedingt kritisiert werden muss, ist ganz verkehrt. Der neue Feind wird innerhalb der eigenen vier Wände gesucht und vermutet, dabei ist er nach wie vor, wo er immer war: bei den Rechten. 

Auch dieses Problem kann also auf eine bequeme Haltung zurückgeführt werden, auch wenn der Ursprungsgedanke dahinter mal ein ganz anderer war. Und wenn wir das zu lange übersehen, passiert das, was bei der letzten Wahl geschehen ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Tür, hinter der sich das derzeitige politische Geschehen befindet, genauso wenig verschlossen bleibt, wie jene zu unserem Kommunikationsverhalten. Warten nützt jedenfalls nichts. 

| Sarah Caliciotti

Hinterlasse einen Kommentar