In der Theologischen Fakultät der Uni Innsbruck, im historischen Gang im 1. Stock, versammeln sich derzeit Straßenzeitungen aus aller Welt: The Big Issue aus Großbritannien, Japan, Australien oder Taiwan, L’Itinéraire aus Montreal, The Curbside Chronicle aus Oklahoma City oder Hus Forbi aus Dänemark – und der 20er, die Tiroler Straßenzeitung. Das Redaktionsteam des 20er organisierte die Ausstellung „Wie Straßenzeitungen Leben verändern“ in Zusammenarbeit mit dem Journalismusfest 2025 am vergangenen Wochenende und macht damit die weltweite Bewegung der Straßenzeitungen, deren Arbeit und gesellschaftliche Bedeutung sichtbar. Zu sehen ist die Ausstellung bis Samstag, 24. Mai, 18 Uhr, in der Theologie – und soll anschließend in die nächste Stadt weiterwandern.

Eine globale Stimme gegen Armut: Die Ausstellung „Wie Straßenzeitungen Leben verändern“
„Wie Straßenzeitungen Leben verändern“ lautet der Titel der Ausstellung, die die Tiroler Straßenzeitung 20er aktuell im Umfeld des Journalismusfests in der Theologie zeigt. Der Name verweist bereits auf die Intention der Kurator:innen: Sie wollen aufzeigen, wie Straßenzeitungen weltweit nicht nur Existenzen sichern, sondern auch soziale Teilhabe und Sichtbarkeit allen voran für Menschen in prekären Lebenslagen, daneben aber auch für die vielfältigen Inhalte der Straßenzeitungen und ihren Mehrwert schaffen. Die Ausstellung wurde ursprünglich von den Rebecka Domig und Sara Winter Saiylir vom Schweizer Straßenmagazin Surprise konzipiert und im Kornhausforum in Bern ausgestellt – auf den Tag genau 1 Jahr vor der Eröffnung in Innsbruck. Für die Innsbrucker Ausstellung wurde ein Teil der Exponate ausgewählt, sorgfältig aktualisiert und arrangiert. Sie folgt keiner linearen oder chronologischen Anordnung, sondern stellt einen Streifzug durch Weltregionen, Publikationsdesigns und Lebensgeschichten dar. Die grafische Gestaltung übernahm Maria Markt-Stecher.
Jakob Häusle, Redakteur des 20er, erzählt:
„Die Grundidee der Ausstellung ist es, sichtbar zu machen, dass Straßenzeitungen keine isolierten regionalen Projekte sind, sondern Teil einer weltweiten Bewegung. Es gibt über 90 Straßenzeitungen in mehr als 35 Ländern und 25 Sprachen – und sie alle zeigen: Es braucht uns offenbar immer noch.“
Denn Armut, soziale Ausgrenzung und fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt stellen die Lebensrealität vieler Menschen weltweit dar. Straßenzeitungen bieten niedrigschwellige Beschäftigungsmöglichkeiten, schaffen Aufmerksamkeit für marginalisierte Gruppen und eröffnen Wege aus der Isolation.

Der 20er: Lokal verankert, global vernetzt
Der 20er wurde 1998 in Innsbruck gegründet – inspiriert von US-amerikanischen Vorbildern und dem Wiener Augustin. Ziel war es, armutsbetroffenen Menschen in Tirol eine Einkommensquelle und mediale Stimme zu geben. Nach finanziell schwierigen Anfängen konnte das Projekt dank Unterstützung lokaler Partner wie der Wagner’schen Buchhandlung, der Tiroler Sparkasse und der Druckerei Athesia starten. Die erste Ausgabe erschien im Dezember 1998 – mit dem klaren Anspruch, kein Mitleidsprodukt zu sein, sondern eine Zeitung, die durch Qualität überzeugt. Heute ist der 20er ein professionelles Medium mit festem Redaktionsteam, renommierten Autor:innen und einem klaren Profil: fundierter Journalismus mit sozialem Fokus. Mit einem umfassenden Relaunch 2020 wurden Ausrichtung, Inhalte und Layout des Magazins zuletzt geschärft. Jede Ausgabe bietet ein umfangreiches Dossier, Kulturberichte und Zukunftsthemen im Ressort „Aussicht“. Trotz finanzieller Herausforderungen bleibt der Grundsatz gleich: Der 20er ist Hilfe zur Selbsthilfe – und eine Zeitung, die gelesen werden will. Nach dem Motto: „Wer, wenn nicht wir?“ Drei der Gründungsmitglieder – Uwe Steger, Georg Willeit und Thomas Pupp – sind nach wie vor im Vorstand des Vereins aktiv, gemeinsam mit Birgit Schmoltner, und begleiten die strategische Ausrichtung der Zeitung mit langjähriger Erfahrung, gesellschaftlichem Engagement und einem klaren Bekenntnis zum sozialen und journalistischen Auftrag des 20er.

Das Konzept der Straßenzeitung
Straßenzeitungen ermöglichen einkommensschwachen Menschen, durch den Verkauf der Magazine ein eigenes Einkommen zu erzielen. Sie kaufen die Zeitung zur Hälfte des Verkaufspreises und behalten den Gewinn – ein Prinzip, das auch der Tiroler 20er praktiziert. Rund 10.000 Exemplare werden pro Ausgabe gedruckt. Der Vertrieb erfolgt zentral aus Innsbruck, bald auch über eine zweite Vergabestelle in Wörgl. Die Verkäufer:innen sind in ganz Tirol stationiert und arbeiten auf selbstständiger Basis. Wer neu dazukommt, erhält eine umfangreiche Einschulung. Ein klarer Verhaltenskodex, der das Tragen eines Ausweises und Alkoholverbot während des Verkaufs vorsieht, sorgt für Transparenz. Verkaufsplätze werden untereinander oder mit Unterstützung durch das Vertriebsteam koordiniert, Konflikte werden moderiert.
Waren es ursprünglich vor allem einheimische Obdachlose, die den 20er verkaufen, hat sich das Bild im Laufe des über 27-jährigen Bestehens der Straßenzeitung gewandelt: In Tirol verkaufen sie inzwischen vor allem Armutsmigrant:innen, mehrheitlich aus Rumänien, sowie Geflüchtete aus Nord- und Westafrika. Grund dafür sind Veränderungen in der Sozialpolitik, wie die Einführung der Mindestsicherung 2008, und der ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Straßenzeitung ist also nunmehr vor allem Anlaufpunkt für jene, die keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum regulären Arbeitsmarkt haben oder strukturelle Ausgrenzung davon erfahren, wie viele Migrant:innen.
Der Verkauf schafft nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch Tagesstruktur, Selbstbestimmung und soziale Teilhabe. Jakob Häusle erzählt von einem Verkäufer der dänischen Straßenzeitung Hus Forbi, den er beim Global Street Paper Summit 2024 in Liverpool kennengelernt hat: „Der Mann hat jahrelang auf der Straße gelebt, war schwer alkoholkrank und hat gesagt, er hat sich gar nicht mehr getraut, den Leuten in die Augen zu schauen. Das hat sich erst wieder geändert, als er begonnen hat, die Straßenzeitung zu verkaufen. Dadurch hat er wieder ein Stück weit seinen Selbstwert zurückgewonnen.“
Wichtig: Die Zeitung soll mitgenommen, nicht nur der oder die Verkäufer:in mit einer Spende bedacht werden, so Häusle:
„Nur wenn die Zeitung auch wirklich gekauft wird, kommt ein Teil des Geldes beim Verein an. Das ist entscheidend, denn ohne Verkäufe können wir das Projekt langfristig nicht aufrechterhalten.“

Zwischen Sozialprojekt und Lokalinitiativen
Straßenzeitungen unterscheiden sich nicht nur regional in Inhalt und Gestaltung, sondern auch in ihrer Struktur und Zielsetzung. Manche, wie BISS in München oder Hinz & Kunzt in Hamburg, sind längst etablierte Sozialunternehmen mit festen Teams, eigenen Gebäuden, angestellten Verkäufer:innen und umfassenden sozialen Angeboten – von Beratung bis Wohnhilfe. Ihr Fokus liegt stark auf der sozialen Begleitung der Verkaufenden. Die Bandbreite reicht von sozialen Hilfsplattformen bis zu klassischen Medienbetrieben – verbunden durch das gemeinsame Ziel: Menschen am Rand der Gesellschaft eine Stimme und eine wirtschaftliche Perspektive zu geben. Jakob Häusle zitiert die Geschäftsführerin von BISS, Karin Lohr, die am Sonntag bei der Podiumsdiskussion im Rahmen der Ausstellung den Anspruch der Straßenzeitungen beschrieb: „Straßenzeitungen ermöglichen Menschen in prekären Lebenslagen, dass sie nicht die Hand ausstrecken müssen, sondern hochhalten können.“
Was viele Straßenzeitungen als Basisorganisationen und Anlaufpunkte für die Hilfe zur Selbsthilfe bieten, sind lokale Initiativen und Projekte von gemeinschaftlichen Aktivitäten über Kunst und Kultur bis hin zu Sport. Kleine Gesten wie der „caffè sospeso“ fallen ebenso darunter wie große Sozialprojekte wie Housing-First-Initiativen oder Unterstützung bei Aus- und Weiterbildung oder Beschäftigungsmöglichkeiten.
Abgesehen davon wäre es am besten, wenn es die Straßenzeitung gar nicht bräuchte, beschreibt Jakob Häusle:
„Das Ziel der Straßenzeitung ist im Prinzip, dass sie sich selbst abschafft. Denn wenn es sie nicht mehr braucht, heißt das, es gibt keinen Bedarf mehr gibt. Aber davon sind wir aktuell noch weit entfernt.“
Er erzählt von einem bekannten Beispiel einer norwegischen Straßenzeitung, die sich aufgrund mangelnder Nachfrage seitens der Verkäufer:innen aufgelöst hat: „Die Straßenzeitung Megafon in Bergen wurde 2007 gegründet und 2019 aufgelöst, weil es einfach keine Verkäufer mehr gegeben hat und es damit die Zeitung nicht mehr gebraucht hat.“

Straßenzeitungen: Eine weltweite Bewegung
Straßenzeitungen entstanden Ende der 1980er-Jahre in den USA als Reaktion auf zunehmende Obdachlosigkeit infolge wirtschaftlicher Krisen. Das Modell verbreitete sich im Laufe der 1990er-Jahre weltweit – mit der Gründung von The Big Issue in Großbritannien durch John Bird – selbst ehemals obdachlos – und Gordon Roddick 1991 als wesentlichen Meilenstein. 1994 entstand daraus das International Network of Street Papers (INSP), heute ein globales Netzwerk von über 90 Straßenzeitungen in 35 Ländern und 25 Sprachen. Vom Hauptsitz in Glasgow aus fördert INSP den Austausch durch jährliche Global Street Paper Summits, Weiterbildungen und einen gemeinsamen Nachrichtendienst, den INSP News Service. 2023 wurden über 450 Beiträge weltweit geteilt – mit einem Fokus auf authentische Beiträge zu sozialpolitischen Themen und den Herausforderungen marginalisierter Gruppen. Neben wirtschaftlicher Teilhabe steht im Zentrum der Bewegung die Würde, Sichtbarkeit und Stimme marginalisierter Menschen. Seit 1989 waren über 390.000 Verkäufer:innen Teil der Bewegung – allein im Jahr 2021 wurden 13 Millionen Zeitungen verkauft und fast 18 Millionen Pfund durch die Verkäufer:innen erzielt. Die Ausstellung im Rahmen des Journalismusfests zeugt ebenfalls von dieser internationalen Zusammenarbeit – so wurden die Inhalte von Redakteurinnen des Schweizer Straßenmagazins Surprise kuratiert und anschließend dem 20er zur Verfügung gestellt.
Vielfältige Storys und tiefgehende Berichterstattung
Inhaltlich sind Straßenzeitungen ebenso vielfältig wie ihre Herausgeber:innen. Während einige Blätter – etwa in der Schweiz oder Deutschland – ihren Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit, Armut und wohnpolitische Themen legen, setzen andere auf breiter gefächerte Inhalte, die gesellschaftliche Teilhabe fördern. Bei anderen, wie einige Beispiele aus den USA zeigen, gestalten ausschließlich die Verkaufenden auch die redaktionellen Inhalte. Der 20er etwa bietet neben seinem sozialpolitischen Dossier auch Kulturberichte, Essays und Beiträge zu Umwelt- und Zukunftsfragen. In Asien wiederum greifen Straßenzeitungen oft Themen wie Design, Technik oder Popkultur auf. Dort ist Armut häufig noch stärker tabuisiert, weshalb ein niedrigschwelliger Zugang über andere Interessensfelder gewählt wird. Allen gemeinsam ist das Anliegen, jene Perspektiven sichtbar zu machen, die im medialen Mainstream häufig fehlen – sei es durch persönliche Porträts, Reportagen oder Kommentare. So werden Straßenzeitungen nicht nur zu einem sozialen, sondern auch zu einem publizistischen Korrektiv.
Auch im 20er finden sich immer wieder Geschichten und Beiträge von den Verkäufer:innen. Irmi, die oft am Sparkassenplatz ihre Verkaufsstation hat, schreibt gelegentlich über ihre Liebe zu Schlagermusik. Ein Student aus Kamerun, der neben dem Studium den 20er verkauft, hat sich kürzlich auch bei Jakob mit Ideen und Themenvorschlägen gemeldet. Und Livia, die mit 17 Jahren aus Rumänien nach Österreich kam und einst unter einer Brücke schlief, wurde für die Ausgabe April 2025 in einem Porträt begleitet und auf das Magazincover gesetzt – heute lebt sie mit ihren vier Kindern in einer Wohnung und arbeitet an ihrem eigenen Secondhand-Geschäft in Rumänien.
Vor allem die journalistische Vielfalt und inhaltliche Tiefe sind für den Redakteur ein Alleinstellungsmerkmal des 20er. Jede Ausgabe vereint Reportagen, Interviews, Essays und gesellschaftskritische Analysen, oft abseits des medialen Mainstreams. „Tirols Medienlandschaft ist nicht allzu breit aufgestellt. Hier gibt es sonst kaum ein Medium, das so in die Tiefe geht und sich mit Themen beschäftigt, die anderswo oft keinen Platz finden“, berichtet Häusle. Dabei steht für ihn nicht nur gesellschaftliche Relevanz, sondern auch journalistische Integrität im Vordergrund. „Ich sehe mich als klassischen Journalisten: nicht Gemein-Machen mit einer Sache, auch wenn sie gut ist – sondern sagen, was ist.“ Auch wenn der 20er thematisch sozial ausgerichtet sei, bleibe die Distanz wichtig: „Wir haben eine Haltung – aber wir machen keine Agitation. Das zeichnet guten Journalismus aus.“
Für die Ausstellung „Wie Straßenzeitungen Leben verändern“ gibt es übrigens schon weitere Nachfrage: Bei einer INSP-Redaktionssitzung unter den deutschsprachigen Medien haben bereits einige Redaktionen Interesse an der Ausstellung bekundet. Im Idealfall wird sie nun also zur Wanderausstellung, erzählt Jakob Häusle, und schafft auch in anderen Städten Bewusstsein über die Arbeit und Hintergründe der Straßenzeitungen, ihrer Redaktionen und Verkäufer:innen.







| Julia Zachenhofer
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Mehr Infos zum 20er – Die Tiroler Straßenzeitung – auf der Website: www.20er.at (Pssst: Den 20er kann man übrigens auch zu sich nach Hause liefern lassen.)
Mehr Infos zum International Network of Street Papers: www.insp.ngo
Die Ausstellung „Wie Straßenzeitungen Leben verändern“ wurde im Rahmen des Journalismusfests 2025 installiert und kann noch bis Samstag, 24. Mai, 18 Uhr, besucht werden (1. Stock, Karl-Rahner-Platz 1, Innsbruck)
