Im Herbst stand halb Innsbruck wieder im Zeichen des Positive Futures Festival (PFF), das an zehn Konzerttagen acht unterschiedliche Locations in der Stadt bespielte. Auch über die Wahl der Spielorte hinaus ziehen sich Variation und Verbindung durch jeden Aspekt des Festivals. Wie diese Verbindungen, auf zwischenmenschlicher und künstlerischer Ebene, zustande kommen können, wird an jedem Festivaltag auf neue Arten erprobt. Mehr im Nachbericht.

Der Verein zur Förderung des interkulturellen Dialogs und des grenzüberschreitenden Austauschs holt seit drei Jahren Künstler:innen aus aller Welt nach Innsbruck. Die Organisation rund um Kurator Martin Bleicher, die hinter dem PFF steckt, klingt damit für das in Therapy Speak geschulte Ohr vielleicht erstmal so, als hätten sie nichts Gutes im Sinne. Natürlich sind hier aber nicht zuletzt die geographischen Grenzen gemeint, die die Artists überschreiten, um aus den unterschiedlichsten Ländern anzureisen – dieses Jahr ungefähr 18 an der Zahl. Nicht umsonst bezeichnet sich das Festival auch als Spielstätte für „Outernational Music“. Aber der Titel ist vielschichtiger als das.
Ein Freitagabend bei Funeral Folk mit Sara Parkman und Maria W. Horn in der Halle 6, St. Bartlmä. Das Musikprojekt ist eine zeitgenössische Interpretation von schwedischer und finnischer Volksmusik, die sich, wie der Titel verrät, mit Themen des Todes und des Trauerns auseinandersetzt. Saiteninstrumente mischen sich mit rituellem Gesang zu einer Art Beerdigungsritus, der volkskulturell anmutet, aber nicht klar einer bestimmten Tradition zugeordnet werden kann. Das muss man aber auch gar nicht, ist der Tod schließlich eine der wenigen Erfahrungen, die wir alle, egal woher wir kommen, gemeinsam haben. Der zyklische Gesang, die ornamentalen Lichtfragmente, die an den Wänden entlangziehen, das zerbrechliche Geflecht der Kronen auf den Köpfen der Künstler:innen und die Schönheit des Profils der Sängerin im Gegenlicht, alles spinnt mich ein in eine außerirdische Andacht. Leise wird zwischen der Musik ein Gedicht verlesen: „Slowly, slowly, we sing ourselves to eternal rest”. Gegen Ende des Konzerts ist das Makeup der Sängerin tränenverschmiert. Die Künstler:innen bringen uns ein Lied bei. Ein Memento Mori als wortlose Melodie, einfach zu wiederholen und im ewigen Kreislauf weiterzusingen. Erst noch von Musik untermalt, sind irgendwann nur mehr die Stimmen des Publikums im Raum zu hören. Daraus wird langsam ein Klatschen, als die Künstler:innen die Bühne schon mehrere Minuten verlassen haben.
Wie kann man zwischen fremden Menschen ein Gefühl der Gemeinschaft erzeugen? Eine Möglichkeit ist es, eine gemeinsame Erfahrung, ein Gefühl zu ermöglichen, das sie zusammen erleben können. Das muss nicht zwangsläufig von Dauer sein. Manchmal genügt es, den Moment zu teilen, und sich ein paar Stunden lang eins mit den Fremden um einen herum zu fühlen.

Etwas, wofür das Positive Futures Festival neben Musik aus allen Ecken der Welt noch bekannt ist, oder zumindest bekannt sein sollte: ein Lineup wie eine Watschn. Hier kann man sich auf rein gar nichts einstellen. Auf die eben erlebte Andacht folgt deshalb an diesem Abend Angry Blackmen, ein Hiphop-Duo aus Chicago, das wütenden Rap macht und im Publikum direkt einen Moshpit startet, der sich nach all der Schwere nach verdienter Katharsis anfühlt. „Do you think these white liberals are scared to say the word Blackmen?” fragt einer der zwei den anderen. Falls wir Angst davor oder vor irgendetwas anderem hatten – gegen Ende des Konzerts haben sie sie uns jedenfalls ausgetrieben „When I say ANGRY you say BLACKMEN!“ heißt es. Und die gesamte Halle schreit dann auch zurück.
Als ich am nächsten Tag zu Das Kinn komme habe ich außer Kaffee, Energydrinks und Prosecco zufällig fast nichts zu mir genommen und damit vermutlich genau die richtige Diät für diese Art von Musik erwischt: Neue Deutsche Welle in Grau, elektronisch, abgehakt. Überreizend, als würde man auf einer Rennbahn im Kreis getrieben. Das Quietschen der Industrietür und die trockenen Announcements zwischen den Liedern (“In diesem Lied geht es um Menschen, die 1987 gestorben sind. Es heißt: Menschen 1987.“) zerschneiden den Moment wie eine riesige, blecherne Schere. Auf-ab-auf-ab geht es mit den Gefühlen. Mein Highlight des Festivals.

Als nächstes übernehmen die drei Finn:innen von Muovipussi die Bühne. Eine Show, die im Booklet als „Rap, Crispy Pop und Metal“ beschrieben wird, aber nicht wirklich mit irgendetwas zu vergleichen ist, das ich schon einmal gesehen habe: Tanzmusik mit Remixes von Kotzgeräuschen trifft auf Metal-Vocals, eine Handtasche, die mysteriöse Geräusche ausstößt und seltsame Akrobatikübungen (der Synthesizer wird mit einem Fuß hinter dem Kopf bedient). Mitten im Konzert wird eine der Performer:innen von den anderen beiden spontan ausrangiert, das heißt: weggetragen und auf den Boden im hinteren Bereich der Bühne gelegt. Eine Decke wird über sie gebreitet, das Konzert geht zu zweit weiter. Zwei Lieder später entspringt sie ihrer Ecke wieder, jetzt mit Corpse Paint, die sie sich anscheinend unter der Decke liegend selbst aufgemalt hat. Während dem Konzert gibt es auch andere aufregende Outfitmomente: unter schwarzen Müllsäcken, als Kleider drapiert, kommt an der einen ein rot schillerndes Paillettenkleid zum Vorschein, während die andere zwei Plastikmasken enthüllt, die von ihrem Oberkörper baumeln und mit ihren offenen Mündern ein endloses Jammern auszustoßen scheinen. Eingepackt von diesen gummigen Busenmännern wird sie anschließend auf Schultern singend durch die Halle getragen. Das Ganze hat etwas von einem grotesken Gottesdienst. Mitten im clownesken Spektakel beschreibt eine der Künstler:innen eine Erinnerung. Eine Lehrerin, die ihr schon früh ihre eigensinnige Art und ihren unkonventionellen Geschmack austreiben wollte: „What would that teacher say if she saw me here today? Well, I don’t know, because she’s not here. I am.“

Das PFF hat Mut, scheinbar unvereinbare Dinge unter ein Dach zu stecken. Was dabei herauskommt ist manchmal seltsam, aber nie langweilig – und immer ein Gesamtkunstwerk. Die Acts an diesem Abend verbindet kein gemeinsames Genre, vielleicht aber ein ähnliches Auftreten; eine trockene Schlichtheit zwischen den Liedern, keine Spur von Selbstinszenierung. Niemand nimmt sich selbst zu ernst oder will den Schein wahren, wodurch man sich nur umso mehr fragt, was gespielt ist und was nicht. Trotzdem, oder gerade, weil es so ungezwungen ist, entsteht während jedem Konzert eine ziemliche Ernsthaftigkeit, das Publikum ist konzentriert, es wird wenig gefilmt und wenig laut geredet.
Einige Tage später und ein paar Stunden nach dem intensiven Konzert von Soap&Skin im Landestheater (das zwar nicht teil des Festivals ist, aber in Kooperation mit der p.m.k stattfindet, wo auch das Programm fortgesetzt wird), fühlen sich einige von uns nicht bereit, sofort wieder ein Konzert zu sehen. Percussionist Colossal Squid aus England zieht mich dann aber mit betörenden Breakcore-Klängen doch hinüber in den Konzertbogen. Man würde nicht denken, das so etwas funktioniert: eine Synthline vom Band und ein Live-Schlagzeug dazu. Aber tatsächlich brennt der ganze Raum dafür, und ich brenne mit.
Zwischendrin bemerkt der Künstler: „This one I’ve only played once, yesterday in England. It went like shit. But I will try again.“ und erklärt dann weiter, dass er es eigentlich super findet, sich live in einem auditiven Kuddelmuddel zu verstricken, aus dem er sich dann irgendwie hinausarbeiten muss. “Feels very alive” erklärt er. Falls das Lied wieder scheiße gelaufen sein sollte – ich habe es jedenfalls nicht mitbekommen.

Als nächstes kommt DJ Storm, auch bekannt als die „First Lady des Drum n Bass“. Da ich in den Lebensjahren zwischen 16 und 21 eine ziemliche Drum n Bass Überdosis erlitten habe, meide ich solche Abende normalerweise. Doch irgendwie fügt sich wieder alles, und die Lieder, die DJ Storm mit eiserner Geduld von CDs auflegt, die sie einzeln aus ihren Plastikverpackungen pult, sind genau das, was der Abend braucht. Auch nach Jahrzehnten des Auflegens sieht man ihr an, dass sie Spaß dabei hat.
Anders als bei manchen anderen Festivals wird beim PFF nicht versucht, einen Abend lang eine einzige Stimmung zu erzeugen und dann zu halten. Von Euphorie in Andacht, von Wut wieder zu Party zu wechseln, die Leute dahin mitzunehmen, ist wirklich nicht leicht. Und ja, auch das ist irgendwie eine Art Grenzüberschreitung. Aber: manchmal braucht es eben Grenzüberschreitung, um Verbindung aufzubauen und mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten. Genau das, was ein Festival ermöglichen muss, das sich eine positivere Zukunft auf die Fahne geschrieben hat, das einige Wochen lang eine kleine Utopie leben will. Und als Besucher:in muss man sich auf die Reise einlassen. Dann kann sich ein völlig anderes Konzert nach dem vorigen auch wie ein Reinwaschen, ein Verarbeiten anfühlen. Es überdeckt das eben Erlebte nicht, vielmehr gibt es ihm seinen besonderen Platz im Programm: dort war die Andacht, hier ist die Wut, dann kommt die Freude. Und überall Menschlichkeit.
Ein paar neue Lieblingslieder:
- Funeral Folk – Till Margaretha
- Das Kinn – Stirn reicht ins Genick
- Angry Blackmen – Headshots
- Colossal Squid – January
| Delia Salzmann
Über das diskursive Festivalformat PFF Salon haben wir bereits hier berichtet.
