Paper-Cuts suggerieren mit Sternen, luftigen Schneeflocken, zarten Engelchen und lachenden Smileys normalerweise ein Gefühl heiler Welt. Das Projekt Paper Resistance ist nahezu konträr angelegt, wiewohl es an eben solchen Kindheitserinnerungen ansetzt, um eine Basis kollektiven Fühlens zu schaffen. Scherenschnitte können auch subtil politisch sein, in diesem Falle wohnt ihnen sogar ein widerständiges Moment inne. Als Teil der diesjährig unter dem Aufhänger Zeitenwende laufenden Ausschreibung KÖR – Kunst im öffentlichen Raum Tirol residierten belarussische Künstler:innen einen Monat lang in Tirol und luden zu Workshops und Mitgestaltung ein. Mit Papierkunstwerken suchen sie auf emotionaler Ebene Verbindungslinien über Territorien hinweg auf und machen Auswirkungen von Propaganda und Gehirnwäsche in einem autoritär regierten Staat greifbar – auch für Außenstehende.

Die Friedenstaube führt einen Mistelzweig mit sich im Schnabel. Ein angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine um die Welt gehendes Symbol bekommt hier in den Paper-Cuts nochmals eine eigene Wendung. Erst ein detaillierter Blick auf den Scherenschnitt offenbart unten am Gesträuch eine mitausgerissene Wurzel. Sie steht paradigmatisch für die schwierige Geschichte und Situation in einem Land, in dem politische Repression und Unterdrückung auch im Alltag allgegenwärtig sind und fungiert zeitgleich als kraftspendendes Moment der Hoffnung:
„Für mich als Kunstschaffende ist die Wurzel wie eine Säule des Wachstums und der Heilung. Sie repräsentiert meinen Wunsch, weiter Kunst unter schweren Bedingungen machen zu können und die Hoffnung, dass alles einmal besser wird“
, so eine beteiligte Künstlerin und Urheberin dieses Werkes, die aufgrund der gefährlichen Lage Kunstschaffender in Belarus nicht namentlich genannt werden möchte.
Die genannte Friedenstaube ist bezeichnend für Paper Resistance, sie könnte fast Sinnbild des Projektes sein. Die Scherenschnitte offerieren Momente, die genaues Hinsehen schulen. Gerade in ihren Details liegt die referentielle Spannweite: Da sind fremdgesteuerte Gehirne und roboterähnliche Menschen sowie sogenannte Shadow Puppets, die marionettengleich ein groteskes, doch nur allzu realistisches Theaterstück aufführen, an anderer Stelle erheben sich Spiele mit Gegensätzen – Mann zu Frau, Tag zu Nacht, Licht zu Schatten – und schaukeln sich gegenseitig auf. Symmetrische Spiegelungen wechseln sich dann ab mit geometrischen Mustern, die fast schon in die Abstraktion gleiten, um dann wiederum auf klare figurale Motive, nicht selten traditioneller Herkunft, als Metapherngleichnisse zu stoßen. Die Rede ist von einer Katzenpfote mit Wollknäuel, einem Hund, der ein ganzes Haus mit sich am Rücken trägt und Früchten, die aus Sträuchern emporkeimen. Das Spektrum an Arbeiten reicht dabei von filigranen Kleinschnitten bis hin zum Großformat.

Zwei Frauen haben sich in paradiesischer Umgebung auf pflanzenartigen Stühlen um einen Wipptisch gemütlich gemacht. Nicht zuletzt werden traditionelle Muster aufgegriffen und mit neuer Bedeutung aufgeladen. In diesem Zusammenhang sollte neben der Tradition der sogenannten Vycinanka, einem der in der lokalen belarussischen Bevölkerung weit verbreiteten, zur Dekoration von Häusern verwendeten Verfahren auf das jüdische Scherenschnittverfahren hingewiesen werden. Letzteres ist eine in Belarus verbreitete Methode, Papierrahmen für wichtige Dokumente in religiöser Manier auszugestalten und herauszuheben. Querverbindungen zur Rolle des Scherenschnittes auch in Österreich und Westeuropa poppen auf. Er kam schließlich, ähnlich wie in Belarus, in herausfordernden Zeiten als Kunsthandwerk zum Tragen, um als Kontradiktion die Schönheit der Welt heraufzubeschwören. Man denke nur an Anna de Wall, Hedwig Goller, Josefine Allmayer sowie Otto Böhler oder Henri Matisse. Zudem liegt im Scherenschnitt auch hier bereits ein subversives Moment verborgen: Er suggeriert auf den ersten Blick private Häuslichkeit, wurde mitunter im 18. und 19. Jahrhundert von Frauen als Kunsthandwerk entdeckt, um sich für sie verschlossene Räume zur bildenden Kunst zu öffnen und so gewissermaßen verdeckt Gesellschaftskritik auszuüben. Ein Paradebeispiel hierfür war die 1776 geborene Luise Duttenhofer. War es in dieser Zeit für Frauen fast unmöglich den Beruf einer Künstlerin nachzugehen, gestand man ihnen als eine der wenigen künstlerischen Aktivitäten das Scherenschneiden als Freizeitaktivität zu. Bei genauerem Hinsehen ist und war der Paper-Cut daher immer schon mehr als eine Freizeitbeschäftigung.

Die Künstler:innen in Paper Resistance nehmen subtil auf Vorhandenes Bezug, gehen aber ihre persönlichen, individuellen Wege. Insbesondere reflektieren sie die eigene Situation in Belarus. Dort können bereits kleinste Unachtsamkeiten wie die Farbauswahl der Schnitte, beispielsweise die Kombination von Rot und Weiß, zur Gefahr werden, erinnert die doch an die frühere Flagge des Landes und wird vom Staatsregime als Extremismus verurteilt. Koordiniert wird das Projekt von der seit nunmehr gut zehn Jahren im Exil lebenden Elena Romashko, einige der sechs anderen beteiligten Künstler:innen leben weiterhin in ihrer Heimat, wodurch sie und ihre Werkzuschreibungen aus Sicherheitsgründen anonym bleiben müssen.

Auch weil der Paper-Cuts destruktiv sein können – das Schneiden wirkt in diesem Zusammenhang zerstörerisch als auch befreiend – sind sie als Mittel des Widerstands geeignet. Der Akt des Schneidens an sich ist ja bereits eine Subversion, man schneidet sich quasi die Last vom Leibe. Warme, romantisierende Erinnerungen verweben sich hier mit individuellen Erfahrungen und Traumata. Der Scherenschnitt hilft demnach als körperlicher Akt, darüber wegzukommen, aber auch, sich auf Herzerwärmendes zu besinnen. Nicht zuletzt birgt der Scherenschnitt immer auch ein überraschendes Moment in sich, da in der Produktion das Endresultat nicht gesehen und oftmals nur bedingt gesteuert werden kann. Die Papierkünstler:innen Romashko, Baburyna & Co sehen ihn als Chance, einander gesellschaftlich näher zu kommen: Traditionen aus West- und Osteuropa werden mitunter verbunden, um auf Basis des gemeinsamen Nenners, des gemeinsamen Erbes, sowie des kollektiven Schaffens eine Plattform empathischer Annäherung zu ermöglichen:
„Mithilfe der Scherenschnitte wollen wir Dialoge und Diskurse einleiten, die weniger von den trennenden, als von den verbindenden Elementen über Ländergrenzen hinweg geprägt sind“
, so eine beteiligte Kunstschaffende.
Über die eigene Arbeit hinausgehend möchten die Künstler:innen dann über ihre eigene Situation sowie die Schwierigkeit, in einem diktatorischen Land Kunst auszuleben, zu sprechen kommen. Geschichten von Süßigkeiten verteilenden Senior:innen, die lediglich aufgrund der falschen Zuckerln als staatsfeindlich gepackt und arrestiert werden, sensibilisieren und machen die ungeschönte Realität in mit dem Work-in-Progress einhergehenden Erzählungen augenscheinlich. Workshops wie jenes im Volkskundemuseum am 20.8.2023 unter dem sprechenden Titel Papiertheater-Workshop. Gespräche mit Schatten luden über kreative Partizipation öffentlich dazu ein. In diesem Sinne kann und will Paper Resistance die Papierkunst auf ganz neue Weise erfahrbar machen.
| Florian Gucher
