Wer ist die Königin des Wahnsinns? Warum haben wir solche Angst vorm Hinschauen? Und wo ist die echte Lust hinverschwunden? „Wahnsinn als Anliegen oder: Auf der Flucht vor den Spielen“ heißt die Fortsetzung meiner Verdrusskolumne, die sich diesmal vorwiegend über bürgerliche Beschäftigungstherapien und Spaßzwang sowie über Spiele und Spielchen unterschiedlichster Arten ärgert.

„Das ist wie mit dem Denken, man weist ihm seinen Weg, aber dort will es nicht hin, es will immer nur dorthin, wo es das findet, was es schon kennt.“
– Elfriede Jelinek
Was wirklich wichtig ist, ist Wahnsinn.
Wenn ich eine:n Wahnsinnige:n treffe, bin ich gleich verliebt. Sofort. „Mit xxx stimmt doch was nicht“, sagen die Leute, mit denen alles stimmt dann. Und ich weiche dem oder der Nichtstimmenden nicht mehr von der Seite.
Das sollte doch eine Kategorie sein, nach der wir entscheiden, zu wem wir uns hingezogen fühlen, anstelle von Geschlecht, Alter, Status oder Aussehen. Ob wahnsinnig oder nicht. Oder sagen wir: Ob es Grund zur Annahme einer potenziellen Verrücktheit gibt. Ich versuche ja durchaus, toleranter zu werden. Die Glücklichsten sind jene mit den niedrigsten Ansprüchen, habe ich einmal irgendwo gehört. Also genügt mir von nun an das Potenzial zu etwas.
Den Wahnsinn zu definieren fällt mir schwer, denn es ist ein Gefühl, ein Potenzial eben. Oft zeichnet es sich bereits im ersten Blick ab, spätestens nach ein paar Sätzen ist es aber nahezu immer klar. Es geht um eine Bereitschaft zum Abweichen und nicht in Normen Passen, zum Komischsein, zum Folgen von Impulsen, zum Durchdrehen. Es geht um das Zulassen von Eigenwilligkeit und Eigenartigkeit. Und es geht um Diskrepanz anstelle von Widerspruchsfreiheit.
Ganz selten habe ich eine Überraschung erlebt. Dass sich nach Monaten erst das wahre wahnsinnige Gesicht zeigte. Meistens bin ich dann schon eingeschlafen ob der faden Enttäuschung über die vermeintlich unendliche Langeweile. Was nämlich das Hauptproblem ist bei den Nicht-Wahnsinnigen. Sie sind häufig so unfassbar langweilig. Sie können ja nichts dafür, aber ich auch nicht und so will ich meine Lebenszeit nicht mit ihnen verschwenden und leiden. Das muss man auch sagen dürfen.
Natürlich hat jede:r, die oder der das Potenzial zum Wahnsinn in sich trägt, eigene Formen davon und allein schon deshalb ist eine klare Definition unmöglich. Er ist von Natur aus fließend und grenzenlos.
Leichter festmachen lässt sich das Nicht-Wahnsinnige. Und bisweilen ergeben sich nach dem Ausschlussverfahren ja bekanntermaßen auch passable Definitionen.
Ein gutes Beispiel für das, was Nicht-Wahnsinnige oft in sich tragen, ist diese befremdliche Spiele-Lust.* Und dabei täuschen diese beiden eigentlich so guten Wörter über das ihnen inhärent Schlechte, weil jegliche geistige Bereicherung wie auch jegliches Aufkommen eines leidenschaftlichen Gefühls Zerstörende, hinweg. Sie ist nämlich alles andere als Lust, wie ich sie verstehe – als Fallenlassen nämlich, als Genießen und sich Einlassen auf etwas, das auch nur dem Hedonismus unterliegen darf und keinerlei Zweck erfüllen muss, außer den der Freude. Und das Spiel, das ich hier kritisiere, ist keines im Sinne eines kreativen Verspieltseins, keines im Sinne eines erotischen oder verbalen Spiels, keines, das auf Humor basiert oder das aus besagter Lust entsteht, sondern ist im Gegenteil nichts als ein Befolgen eines arbiträren Regelwerks, das jeder echten Hingabe entbehrt.
Ich habe diese Faszination nie verstanden. Die einen schwören auf Brettspiele, die anderen lieben Kartenspiele und die Schlimmsten sind die, die von sich sagen, sie fänden „Gesellschaftsspiele allgemein super“. Vielleicht verstehe ich an gutmütigen Tagen noch Kinder, die sich ihre eigene Welt bauen müssen, um endlich irgendwo autonom sein zu können, ihre eigenen Regeln entwerfen können und sich für einen Moment nicht der hierarchisch strukturierten Welt fügen müssen, in der sie keinerlei Entscheidungsmacht haben. Aber erwachsene Menschen, die sich freiwillig einem bereits existierenden, von jemand anderem kreierten Spiel widmen, das willkürliche Regeln beinhaltet, an die sie sich dann akribisch halten, sind mir ein Rätsel, um nicht zu sagen: ein Grauen. Und immer gibt es die eine Person, die sich wahnsinnig darüber echauffiert, wenn eine andere eine Regel bricht, nicht kennt oder – völlig zu Recht – nicht ernst nimmt. Schließlich geht es nicht um Spaß, sondern um Zucht und Ordnung!
Dabei leben wir doch schon ein Leben nach Regeln, die wir uns nicht ausgesucht haben, die alles andere als die unseren sind – warum also, frage ich mich, warum sollten wir dies im Spiel, also freiwillig, wiederholen? Von außen auferlegte Normen, die Gleichmacherei fördern und Individualität bestrafen, ein Reglement, das uns vorgaukelt, es gäbe ein Richtig und ein Falsch und kein Dazwischen. Denn das Dazwischen könnte uns ja dazu verleiten, das Einfache zu hinterfragen und schlimmstenfalls zu erkennen, dass es gar nicht so einfach ist, sondern eben doch ein wenig komplex und siehe da, schon wäre kein Schubladisieren mehr möglich wo-möglich.
Ich war ja nie ein Fan von Grauzonen. Ich habe mich immer maßlos darüber gefreut, wenn Menschen in Diskussionen klare Positionen bezogen, Farbe bekannten, einen Idealismus in sich trugen, vollkommen überzeugt waren von etwas – mitunter selbst dann, wenn es falsch war. Aber zwischen Schubladen und Grauzonen gibt es eben auch Grauzonen. Die meisten relevanten Inhalte bedürfen nun einmal eines komplexeren Denkvorgangs – und zwar eines solchen, der das Bekannte stets von Neuem hinterfragt. „Ich bin ein Mensch, der“, beginnen allzu viele Sätze, als könnte eine Identität anhand einer Meinung zu einem Thema auch nur im mindesten erfasst werden.
Die meisten Spielefans sind vielleicht einfach deswegen welche, weil sie vor zumindest einem von zwei Dingen Angst haben. Entweder davor, einander nichts zu sagen zu haben, oder aber vor dem Gegenteil: sich in einem tiefgründigen Gespräch wiederzufinden und sich dabei womöglich selbst anschauen zu müssen. Das ist nämlich für die Allermeisten das Beängstigendste, das ihnen passieren kann – sich selbst zu hinterfragen.**
Beim Spielen hingegen gilt es, wie erwähnt, sich an vorgefertigte Regeln zu halten, die jemand anderer für sie erstellt hat und an die man sich nur zu halten braucht, um alles richtig zu machen. Was eigentlich das Gegenteil von selbstständigem Denken ist. Missachtet jemand eine Regel, kann klar belegt werden, warum dies ohne Zweifel ein Fehler war und unweigerlich dazu führen muss, dass diese Person „verliert“ oder gar „ausscheidet“. So entledigt man sich der Dinge und Menschen, die nicht der Norm entsprechen, entfernt sich von allem, das eigenwillig und daher schwierig sein könnte, von allem, das kein Teilchen der Masse ist, sein kann oder sein will – von allem, das ein Dazwischen sein könnte.
Anstatt zu reden wird also lieber ein lustiger Spieleabend mit Arbeitskolleg:innen veranstaltet, oder noch besser mit den Pärchenfreund:innen – das sind Bekannte von Pärchen, die selbst auch ein Pärchen sind, zwingend, denn sonst entsteht ein Ungleichgewicht in keine Ahnung was, Langeweile vielleicht – , denen man leider rein gar nichts zu sagen hat, aber dafür wird es auch nicht unangenehm und das ist das Wichtigste.
Nein, das Wichtigste, das ist schon der Wahnsinn und der entsteht in erster Linie im Gespräch, im Austausch miteinander. Im Herausfordern und Nachbohren und Sich-fragend-Ansehen und Sich-Trauen, Position zu beziehen. Im Senf dazugeben und dazugeben lassen. Nicht immer, nicht ungefragt natürlich, immer mit der richtigen Dosis an Diskretion und Empathie. Stattdessen taucht lediglich der “Ich-erklär-dir-die-Welt, Mädchen”-Senf überall auf, wo man hinsieht. Nirgends aber jener nachfragende Senf, der zuerst zurückhaltend, dann scharf ist, wie er sein soll. Der etwas auf der Zunge zurücklässt, eine Anspielung, eine Herausforderung, eine kampflustige Eröffnung zum Duell. Einen Nachgeschmack voller Möglichkeiten.
Das Weiterkommen, Sich-Entwickeln, aber auch der Spaß, die wirkliche Freude aneinander und am Leben entstehen immer dann, wenn man Platz für etwas Neues schafft – nicht in der Bedingung, immer dasselbe von außen Bestimmte zu befolgen. Das wahre Glück liegt nicht in den Brettspielen!
Oder in Social-Media-Aktivitäten. Viele Nicht-Verrückte bezeichnen ja manche Blogger:innen oder öffentliche Personen, denen sie „folgen“ (alleine dieses Wort sagt schon alles über das Nichtvorhandensein des eigenständigen Denkens dabei aus) als „fast so etwas wie eine:n Freund:in“. Das macht mich unfassbar traurig. Denn was es ja in erster Linie in dieser unausgeglichenen Freundschaft nicht gibt, ist Austausch auf Augenhöhe.
Ein weiteres Merkmal, an dem man potenziell Unwahnsinnige erkennt, ist ihr Vermerk bei der Wohnungsvergabe: „Keine Zweck-WG!!!!“. Was oftmals weiter umschrieben wird mit „Wir wollen gemeinsam kochen und cute Spiele spielen, hihi“.
Um Missverständnisse umgehend zu vermeiden: Es ist gewiss nicht so, dass ich „Zweck-WGs“ etwas abgewinnen könnte. Aber wer kommt denn bloß auf die Idee, von vornherein bestimmen zu wollen, dass der oder die noch unbekannte neue Mitbewohner:in Teil einer möglicherweise ganz anders gearteten Gruppe werden soll und sich an vermeintlich lustigen Gemeinschaftstätigkeiten beteiligen wollen soll? Der Zwang dazu, der ja die Essenz der Nicht-Zweck-WGler bildet, ist doch der Gipfel der Absurdität des Ganzen. Wenn ich etwas muss, mag ich es schon von vornherein nicht. Und wie oft muss ich das dann tun, um nicht nur eine Zweck-Mitbewohnerin zu sein? An bestimmten Wochentagen oder darf ich das selbst entscheiden?
Viel schöner wäre doch: Es gibt keine Pflicht zu irgendetwas und die andere Person entscheidet sich aus eigenem Antrieb heraus dazu, mit mir Zeit verbringen zu wollen. Oder bin ich altmodisch?
Auch dieser Zwang entsteht, wie schon bei den Spielen, wohl ausschließlich, um Austauschbarkeit zu forcieren und Intimität zu vermeiden. Denn wenn die Mitbewohner:innen irgendwann wechseln, wechseln eben auch die Teilnehmenden an genannten Aktivitäten. Es geht nicht um die Person, die da ist, es geht um eine Vorstellung davon, wie ein Miteinander bestenfalls auszusehen hat – und zwar egal welches.
Dies gilt im Übrigen auch für Partnerschaftsbeziehungen. Menschen tendieren zunehmend dazu, sich ihre Partner:innen nach Eckdaten auszusuchen. Digitale Datingplattformen stellen dafür die perfekte Grundlage dar. Passen die drei angeführten Hobbys und das Foto in mein Bild, treffe ich die Person in der Hoffnung, mit ihr meinen Plan von einer Zukunft in die Tat umzusetzen. Wünsche ich mir Kinder, suche ich jemanden, der ein gutes Elternteil sein könnte – nach welchen Maßstäben ich dies wiederum bewerte, steht auf einem anderen Blatt – und eine ähnliche Zukunftsvorstellung hat. Fühle ich mich zu jemandem hingezogen, der nicht in mein Bild passt, lasse ich mich gar nicht erst darauf ein, denn wozu sollte ich „meine Zeit verschwenden“ für jemanden „mit dem ich ohnehin keine Zukunft habe“. Ich frage mich: Wo bleibt dabei das Sich-Verlieben? Seit wann ist das denn nicht mehr das schönste vorstellbare Gefühl, das Eine, nach dem alle streben, die Königin des Wahnsinns, deren Ankunft sich eben nicht planen lässt, sondern die einen unerwartet überkommt und mitreißt und genau dadurch ihren immerwährenden Zauber nicht verliert? Sind wir so leistungsorientiert geworden, dass wir nicht einmal mehr in diesem Bereich loslassen können?
Und das führt mich zu der traurigen Schlussfolgerung, dass bei all dem gemeinsamen Tun und all dem vermeintlich sozial ausgerichteten Handeln die tatsächliche Nähe zu anderen Menschen zunehmend verschwindet. Je mehr wir Zweckkontakte, -momente und -beziehungen anhäufen, desto mehr entfernen wir uns voneinander und damit letzten Endes auch von uns selbst. Und das ist der Grund, warum das alles der größte Feind des Genusses, der Freude und nicht zuletzt der Liebe ist.
Was hilft, ist der Wahnsinn und so ist dieser zu forcieren und wenn er da ist, behutsam zu behandeln. Er soll sich wohlfühlen, damit er bleibt. Möglichst lange, denn er ist es, der uns wach macht und lebendig hält, der Hoffnung schenkt auf Veränderung und auf eine Welt, die abseits des Trostlosen, das uns alltäglich umgibt und das in der Welt passiert, existiert.
*zu meinem eigenen Schutz möchte ich hier anmerken, dass dies nicht zwingend im Umkehrschluss bedeutet, dass alle Spielenden nicht wahnsinnig wären. Ich kenne durchaus auch ein paar (wenige) Wahnsinnige, die zwar der Spiele-Geschmacksverirrung unterliegen, aber dennoch sehr spannende Gegenüber darstellen. Alle, die sich hier angesprochen fühlen, sind sicherlich mitgemeint.
**ohne das an dieser Stelle allzu sehr vertiefen zu wollen, könnte hier noch angemerkt werden, dass für Spielende in einem manipulativen Sinn eine recht ähnliche Diagnose gestellt werden kann. Wer gerne die sprichwörtlichen „Spielchen spielt“, um andere dazu zu bringen, das zu tun, was man möchte, und dabei nie das eigene Gesicht zeigt, nie Stellung bezieht und stets maskiert bleibt, tut dies mit hoher Wahrscheinlichkeit, weil die Angst davor, dass hinter der Maske gar nichts wäre, so groß ist. So kann das Ego immer nur an der Oberfläche befriedigt werden – und das gelingt anhand der Kontrolle, die man, seine eigenen Spielregeln befolgend, über andere ausübt. Durchschaut man diese Spiele irgendwann, führt es aber wieder zum selben Ergebnis: Es wird langweilig, wie Oberflächlichkeit eben immer langweilig ist.
| Sarah Caliciotti
Diesen und andere Beiträge findet ihr auch in unserer neuen komPOST-Printausgabe.
Hier geht’s zur Verdrusskolumne I. „Wut ist nicht nur eine“.
