Anlässe zur Wut gibt es ja viele. Aber irgendwo muss man anfangen. Also: ein Auftakt zu meiner Verdrusskolumne, die Fragen beinhaltet wie: Warum können nicht alle Menschen Eichhörnchen sein? Worin liegt der Reiz des Brüllens? Und wie verlernt man, zu lächeln?
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Wie anders hätte ich reden, mit welch andrer Tonart dreinfahren wollen; über ganz anderes hätte ich sie belehren mögen, die Ahnungslosen, Genügsamen; nämlich… Nämlich? Worüber denn? […] Wollte ich die Leute aus dem Kreis herausreißen, in dem sie eingeflochten seien? In dem sie sich wohl fühlten, nach nichts anderem Ausschau hielten? Darauf ich, hochfahrend: Weil sie nichts anderes kennen. Weil man ihnen nur diese Art Fragen läßt. Wer – man? Die Götter? Die Verhältnisse? Der König? Und wer bist du; ihnen andre Fragen aufzudrängen? Laß alles, wie es ist, Kassandra, ich rate dir gut.
Christa Wolf: „Kassandra“
Es sind die Hirschköpfe in den Stuben. Die Trachten. Die Musikkapellen. Die Schützenvereine. Die allgegenwärtigen Kreuze. Die Skilifte und die Pisten. Das Singen und das Jodeln. Aber auch: Das An-Türen-Läuten und Ansprechen von entgegenkommenden Unbekannten. Wie die Menschen sich sammeln und gemeinsam Dinge tun, die schon verachtenswert wären, würden sie alleine verübt werden. Hockts enk hea, samma mehr. Also: Quantität vor Qualität.
Zum einen drängt sich mir die Frage auf: Woher kommt der Drang, patriotisch zu sein? Stolz auf ein Land zu sein, auf etwas, das – zum Glück – nicht mein Verdienst ist?
Tradition ist imstande, das Schlechteste aus den Menschen herauszuholen. Weil sie sich so sehr festhalten wollen an Bestehendem, dass die Tradition an sich nicht mehr reflektiert wird. Weil sie glauben, wenn etwas für viele Jahre für viele Menschen funktioniert hat, muss es gut sein. Oder es kann zumindest nicht ganz falsch sein. Oder zumindest zeigt niemand mit dem Finger auf einen und sagt einem, dass es falsch ist. Weil man in der Masse stark ist. Nur alleine ist man schwach. Außer als öffentliche Vertreter:innen der Masse vielleicht. Da ist man noch stärker.
Dass Tradition das Schlechteste aus den Menschen herausholen kann, macht sie zu einer existenziellen Bedrohung.
Vieles von dem Aufgezählten und Einiges darüber hinaus weisen aber lediglich auf Geschmacklosigkeit und Aufdringlichkeit hin. Beispielsweise wäre es mir auch ein dringendes Anliegen, zu verstehen, warum die Menschen hier so schreien. Täten sie das nicht, fiele es leichter, sie zu ignorieren. Selbst beim Smalltalk, über den es ja zumeist nicht hinausgeht, wird gebrüllt. Wie um sich selbst spüren zu wollen, um sich selbst zu hören. Sie wollen sich ein Bild von ihnen machen, weil ein Bild kein Spiegel ist. So sind wir. So sind wir nicht.
Es mag sein, dass viele dieser Dinge an anderen Orten genauso geschehen. Nur kenne ich eben nur diesen so gut, um mir ein Urteil darüber zu erlauben und mit Verlaub – in dieser geballten Form des Primitiven ist es mir persönlich anderswo bislang nicht untergekommen.
Wir kommen auf die Welt an einem zufälligen Ort, wachsen an diesem oder einem anderem auf, bar jeden kausalen Zusammenhangs. Im Sinne von: es könnte auch ganz anders sein. Und doch wird der Beliebigkeit zum Trotz auf diese Weise Identität geschaffen. Die Kreuze, die auf jedem Gipfel thronen, ergeben keinen Sinn. Jesus war kein Bergsteiger. Noch weniger Sinn ergeben patriotische Lieder auf Almhütten. Wenn ich mit der Natur im Einklang sein möchte, bin ich noch weiter weg von den Menschen als sonst. Ich liebe nicht ein Land, ich liebe die Bäume, die Wiesen, die Tiere, die Stille. Also alles, was der Mensch zerstört. Denn, um es mit Donna J. Haraway zu sagen: „Ich bin eine Kompostistin und keine Posthumanistin. Wir sind alle Kompost und nicht posthuman. Jene Grenze, die Anthropozän / Kapitalozän heißt, bedeutet vieles, unter anderem, dass immense und irreversible Zerstörung tatsächlich passiert, nicht nur für die etwa 11 Milliarden Menschen, die zum Ende des 21. Jahrhunderts auf der Erde leben werden, sondern auch für unzählige andere Kritter. […] Der „Rand des Aussterbens“ ist nicht nur eine Metapher, Systemzusammenbruch ist kein Thriller. Fragen Sie irgendeinen Geflüchteten ganz egal welcher Spezies.“ (Donna J. Haraway: „Unruhig bleiben“)
Vor ein paar Tagen zog es mich in den Wald und ins Alleinsein. Ich nahm den zugewucherten Weg, um möglichst niemandem zu begegnen und mich für ein paar Stunden von der Bürde dessen, was gemeinhin für zivilisiert gehalten wird, zu befreien. Ich setzte behutsam und möglichst leise einen Schritt vor den anderen, um kein Eichhörnchen zu verpassen, das von oben auf mich herunter schimpft. Keine zwanzig Minuten später stand er da, ganz klassisch mit seiner schrecklichen Feder auf seinem schrecklichen, dunkelgrünen Hut. Schnell griff ich nach meinem Mobiltelefon, um ein Gespräch vorzutäuschen, aber selbst wenn ich schnell genug gewesen wäre – es wäre ihm egal gewesen. „Wo geahschn hin, Madl?“ brüllte er. Dahin waren die Eichhörnchen. Auch in dieser unbehaglichen Situation musste ich an Haraway und ihren Slogan „Macht euch verwandt, nicht Babys!“ denken. Verwandtschaft artenübergreifend zu denken, anstatt innerhalb einer Spezies, erscheint mir als über alle Maßen naheliegender Ansatz, vielleicht noch zu retten, was zu retten ist. Wenn etwas Positives aus dem Menschsein hervorgehen soll, so kann dies nur in einer Gemeinschaft geschehen. Aber nicht in der individuellen, im Sinne eines „je mehr desto besser“, sondern im Gegenteil: in der Einschränkung der Quantität auf der einen und der Einbeziehung aller Gruppierungen auf der anderen Seite – seien es Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, Sexualität oder Geschlechter, seien es verschiedene Spezies. Denn kein Mensch und keine Art handeln allein. Alle sind mit allen verbunden und existieren nur durch-einander.
Warum ich genau in diesem Moment daran denken musste, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil ich mich dem Eichhörnchen ungleich näher fühlte als der Kreatur, die mir vermeintlich ähnelte.
„Nur ein bisschen rauf“ murmelte ich dem Mann zu, der immer noch erwartungsvoll vor mir stand, und blickte auf den Boden. Ohne stehen zu bleiben, drängte ich mich an ihm vorbei, doch er schrie ungehindert weiter. „Jo da Schnea isch no nit so weit unten ge, des geat schu no guat. Tuasch Schual schwänzn, ha? I sogs koam, koa Angscht!“ Und dann tat ich es wieder, um der Situation so schnell wie möglich zu entkommen: Ich lächelte. Ungeachtet der Tatsache, dass ich über dreißig Jahre alt bin, weder in die Schule gehe, noch auch nur das geringste Verständnis dafür aufbringen kann, dass fremde Menschen mich grundlos ansprechen, wenn sie nicht dem Tode nahe sind oder aus einem anderen triftigen Grund Hilfe benötigen. Ich drehte mich um und lächelte ihn an, und er grinste zufrieden zurück und nickte eifrig. Immer lächle ich, wenn es in mir schreit, weil ich gelernt habe, dass Menschen das sehen wollen, dass ich nur dann eine Chance habe auf Ruhe.
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Mir wäre schon ein „Hallo“ zu viel gewesen. Oft wird mir deshalb Unhöflichkeit vorgeworfen. Aber auch Höflichkeit ist ein willkürlicher Wert – mir persönlich sind die Nicht-Grüßer:innen wesentlich angenehmer, da sie mich nicht zwingen, zu reagieren. Die andauernde Interaktion zwischen Menschen scheint eine Zwangsstörung eines Großteils der Bevölkerung zu sein.
Zwei Stunden später erreichte ich die Höhe einer Hütte und eine Gruppe von in die Jahre gekommenen „SchweinsbratenmitKnödelundSauerkraut“(ein Wort)-Verschlingenden mit ähnlichen Hüten wie jenem ihres Vorgängers saßen um einen Tisch herum und, sagen wir, sangen so laut, dass jede:r es hören musste, ob er oder sie wollte oder nicht.
Ich sah weg, ging vorbei, spürte die Blicke, spürte ihren Ansatz, mir etwas zuzurufen, Luft zu holen, ich begann zu laufen, zielstrebig auf die Büsche zu, die die Hütte auf der anderen Seite vom Weg trennten und versteckte mich zwischen dem Gestrüpp. Ich atmete auf und aß mein Brot. Genuss war es zwar keiner, da ich Zweige im Ohr hatte und auf spitzen Steinen saß. Aber es war beinahe still, also war alles schon fast gut.
Und dann, am Rückweg der Tiefpunkt. Der besagte schreckenerregende Tisch wurde um die unvermeidliche Jacke mit dem Aufdruck „Dem Land Tirol die Treue“ samt Mensch darin bereichert. Es stach zu wie ein geschliffenes Messer. Ich weiß nicht, wo ich all meinen Hass verstauen soll.
Um das sicherheitshalber festzuhalten: Ich möchte keinesfalls Indiskretion und schlechten Geschmack mit Patriotismus und rechtsgerichtetem Gedankengut gleichsetzen. Ich möchte nur von meinen Tagen voller Wut erzählen, an einem Ort, an dem andere scheinbar „Wurzeln“ fühlen. Und in irgendeiner Weise, die mir selbst noch nicht ganz begreiflich scheint, hängen diese Dinge wohl zusammen, denn sie passieren in meiner Erfahrung allzu oft am selben Ort zur selben Zeit mit einer ähnlichen Lautstärke.
Aber auch wenn wir vom wahren Übel absehen und uns in dieser Betrachtung nur auf die Menschen beschränken, die ohne böses Ansinnen ihre Stumpfsinnigkeit zum Besten geben wollen: I would prefer not to. Hear it. Und wahrscheinlich ist es das, was ich dringend von Bartleby lernen müsste (ungeachtet dessen, dass dieser ganz andere Probleme hatte): nein zu sagen, wenn es nein schreit. So lange lächle ich noch, bis kein Lächeln mehr übrig ist.
| Sarah Caliciotti
* Die Ausführungen spiegeln die Meinung der Autorin wider und nicht unbedingt jene der restlichen Redaktion.