In den letzten drei Wochen zeigte die Biennale INNSBRUCK INTERNATIONAL zum 6. Mal an unterschiedlichsten Orten in der Stadt – darunter Kirchen, Keller, der Hofgarten und die Bergiselschanze – zeitgenössische Kunst. Unter dem Motto „HEAVEN CAN WAIT“ konnte man sich dort auf die Suche nach Antworten für gesellschaftspolitische Fragestellungen machen, historische Fakten und Mythen kennenlernen, mobilen Konzerten beiwohnen oder den Wetterbericht an Ästen ablesen. Ein paar Überlegungen zu den Aufgaben zeitgenössischer Kunst im Nachbericht.

An einem warmen Donnerstagabend Anfang Mai sitze ich mit ein paar Freund:innen bei einem Dosenbier am Innsbrucker Marktplatz zusammen. An diesem normalerweise zwar nicht sozial aber zumindest kulturell brachliegenden Ort im Herzen der Stadt rechnen wir über unsere eigenen Gespräche hinaus nicht mit viel Entertainment. Seit die Techno-Veranstaltungsreihe Sundowner mit der Pandemie den Geist aufgegeben hat, habe ich hier Musik eigentlich nur mehr aus JBL-Boxen gehört. Doch plötzlich erklingt sie, und das via Anlage – Mmezo vom Eat Network legt auf. Dann erzählt jemand aufgeregt von einem „halben Reh“, das man um die Ecke, auf der anderen Seite des blauen Containers, an dem wir seit ein paar Stunden lehnen, und dessen Existenz wir bisher nicht weiter hinterfragt hatten, besichtigen könne. Hier sind wir nämlich zufällig in die Eröffnungsparty der Biennale INNSBRUCK INTERNATIONAL 2024 hineingestolpert, erfahren wir dann. Unter der Leitung von Tereza Kotyk und der Kuration von Franziska Heubacher und Chris Clarke zeigt die Biennale drei Wochen lang diverse Installationen, Bilder, Skulpturen und Performances, darunter viele Auftragsarbeiten, unter dem Motto HEAVEN CAN WAIT. In der Biennale-Broschüre wird das folgendermaßen erklärt:
„INNSBRUCK INTERNATIONAL steuert mit dem Thema HEAVEN CAN WAIT einen Wegweiser für die kommende Zeit bei: wie umgehen mit Naturkatastrophen, Migration, dem Aussterben von Tierarten und den Auswirkungen auf den einzelnen Menschen – sich einhöhlen oder der Katastrophe hingeben?“
Die Biennale will dazu beitragen, ein „neues Konzept des Miteinanders“ zu gestalten und hat dazu „(…) Künstler:innen eingeladen, deren Arbeiten Strategien bieten, wie individuelle Stärke zu einem kollektiven Überleben beitragen kann.“ Das Thema Migration im selben Satz mit Naturkatastrophen aufzuzählen, hat einen unangenehmen Beigeschmack – in Anbetracht der genannten Ziele vermutlich nur ein Fehlgriff in der Wortwahl. Kunst als eine Art Wegweiser oder sogar Lösungsansatz für gesellschaftliche und politische Probleme zu sehen, scheint gerade jedenfalls ziemlich in Mode zu sein. Nicht unbegründet – Kunst hat in der Geschichte immer wieder Missstände abgebildet, parodiert und kritisiert, wo anders keine Kritik möglich war, Menschen aufgerüttelt, vielleicht einen Anstoß zum Umdenken gegeben. Oft fehlt mir in Beschreibungstexten zu zeitgenössischer Kunst, die nicht müde werden, die Krisen unserer Zeit aufzuzählen (als bräuchten wir eine Erinnerung), aber eine Konkretisierung, die über reine Worthülsen hinausgeht. Sehr konkret fühlt sich im Kontrast das oben bereits erwähnte halbe Reh an – eine von vier Arbeiten aus der Serie „Garden of Earthly Delights“ der Künstler Steinbrenner/Dempf & Huber, die am Marktplatz, direkt vor dem temporären Biennale Office, zu sehen sind. Die ausgestopften Körper von vier verschiedenen Tieren sind hier mit diversen Gegenständen wie Kamera-Objektiven und Kabeln kombiniert, verklebt, verwoben. Mich erinnert das vom Stil her vielleicht ein bisschen an Banksy: irgendwie lustig, ziemlich plakativ und vage kitschig. Das Reh mit dem Universum im Bauch, in dem ein kleiner Astronaut schwebt, finde ich zumindest auf ästhetischer Ebene ansprechend. Laut Beschreibung soll Garden of Earthly Delights zu einem „Denken des gesamten Lebendigen und des Planeten als ein partnerschaftlich zu organisierendes System“ anregen. Der empathiespendende Effekt bleibt für mich bei einer derart objektifizierenden Art, tote Tierkörper auszustellen, aber aus – eher mutet das ein bisschen zynisch an.

Als Eyecatcher für das Laufpublikum am Marktplatz funktionieren die ausgestopften Tiere vermutlich. Schon genauer hinschauen muss man, um Arbeiten von Christian Kosmas Mayer in der Umgebung zu entdecken: seine „Telltales“ – kleine, glattgeschnitzte Äste, welche laut Bauernweisheit mithilfe ihrer wechselnden Neigung das Wetter vorhersagen sollen, kleben an den umstehenden Bäumen wie lange, neugierige Nasen. Christian Kosmas Mayer stellt auch im Bischofshaus aus – in einem sonst nicht öffentlich zugänglichen, höhlenartigen Raum aus dem 15. Jahrhundert. Hier verarbeitet der Künstler Hexenmythen anhand der Geschichte der Ur-Hexe Ursula Southeil, besser bekannt als Mother Shipton, welche unser Hexenbild bis heute prägt. Diese soll laut Überlieferung in einer Höhle geboren worden sein und die danebenliegende Quelle die magische Fähigkeit besessen haben, Lebewesen zu versteinern – was Mother Shipton für düstere Machenschaften genutzt haben soll. Wie so oft handelte es sich im Fall von Ursula Southeil vermutlich nur um eine kluge und widerständige Frau, deren Weisheit auf die Machthaber der Zeit bedrohlich wirkte, und die deshalb als Hexe angekreidet wurde. Der Künstler spürte die echte Quelle, auf die die Sage sich bezieht, auf und versuchte sich dort selbst an Hexerei: er versteinerte verschiedene Objekte mithilfe des stark mineralienhaltigen Wasserstroms. Im Bischofshaus sind einige Ergebnisse zu sehen: ein blasses Grüppchen aus versteinerten Stofftieren, kalkige Bären, Pferde und Hunde, duckt sich vor einem Fenster. An einer Säule im Raum hängen Nahaufnahmen von Falterflügeln. Dem hier untersuchten Falter gaben Forscher den Namen „Mother Shipton“ aufgrund seiner Musterung: der dunkelbraune Fleck erinnert an eine hakennasige Gestalt, eben das Klischeebild einer Hexe. Nicht nur die Ideen und ihre handwerkliche Umsetzung sind hier spannend. Das Konzept des Künstlers wird untermauert durch die dunklen und historisch aufgeladenen Ecken des Raumes, welche der christlichen Kirche gehören, der Hauptinstitution der Hexenverfolgung.
In der Galerie A4 sind Arbeiten der Schweizer Dichterin und Künstlerin Erica Pedretti zu sehen. Ihre Skulpturen schweben im hohen, schmalen Raum mit der vergitterten Decke, welche an das nach oben gekehrte Fenster eines Gefängnisses erinnert. Der Eindruck spiegelt sich in den Skulpturen: vogelartige Luftschlösser, halb Architektur, halb Lebewesen, die in den gewobenen Brustkörben ihre eigenen Käfige mit sich zu tragen scheinen. Ein Gleichgewicht von Leichtigkeit und tiefem Kummer vermitteln auch die Arbeiten derselben Künstlerin, die in der Kapelle neben dem Landhaus zu sehen sind. Diese Kirche, welche nach der christlichen Figur des St. Georg benannt ist, bildet an zentraler Stelle den Kampf dessen mit dem Drachen ab. Zwischen funkelnden Lüstern und güldenen Bordüren stehen sich hier zwei von Erica Pedrettis Arbeiten gegenüber, die passenderweise an Drachenflügel erinnern – vor allem die dunklere der beiden hat es mir angetan. Der ledrige, hauthafte Stoff hängt wie ein erschöpftes Lebewesen von der prunkvollen Decke: zart, düster, verletzlich, organisch; Traurigkeit und Geschichte tragend.

Am letzten Wochenende der Biennale ist in einem leeren Gewächshaus nahe dem Hofgarten „One. Two. Nine.“ von Philipp Fleischmann zu sehen. Im Programm war die Arbeit als „Performance“ angekündigt. Entsprechend verwirrt wandern die Besucher:innen durch die kleinteilige Klang- und Lichtinstallation. Mit Overhead-Projektoren, die ratternd verschiedene Bilder auf Plexiglaswände werfen, erleben wir den Sonnenuntergang durch die Glasfassaden. Dazu erklingen gelegentlich Tonsegmente, die auf mich relativ beliebig wirken. Erneut ist die Biennale aber mit kluger Kombination, mit dem Erschließen eines besonderen Ortes für eine besondere Stimmung erfolgreich: während die bunten Rechtecke im Kontrast zur sich langsam ausbreitenden Dunkelheit immer intensiver werden, herrscht eine Stunde lang eine eigentümliche Stille im Glashaus, wir verlassen die Gärtnerei schweigend und friedlich.

An manchen Stellen ist die Biennale klar mit dem Anfangs erwähnten Motto befasst, so etwa im Falle von „Dates for a Subjective Timeline of the Climate Change“, wo sich in der Neuen Galerie Aquarelle von Radenko Milak und Collagen von Roman Uranjekgegenüberstehen und so über historische Ereignisse kommunizieren. Oder im Falle der Künstlerin Ailbhe Ní Bhriain, die im Reich für die Insel unbehagliche Wandteppiche ausstellt – mechanisch gewebt, identitätslose und blutverschmierte Kriegsschauplätze zeigend. Dazwischen, auf einer schwarzgläsernen Scheibe, eine kalte, glatte Katze. Wieder siegt hier ein Gefühl – Unbehagen – über eine rationale Konklusion. Sind alle Inhalte der Biennale politisch oder liefern gesellschaftskritische Lösungsansätze? Nein. Müssen sie das? Meiner Meinung nach: auch nein. (Ohnehin stellt sich mir die Frage, ob Umgangsstrategien mit den Krisen unserer Zeit jenen vorbehalten sein sollten, die Geld für Kunstveranstaltungen ausgeben können.)
Derzeit scheint die zeitgenössische Kunst sich selbst in einer Art Bringschuld zu sehen, scheint ständig ihre eigene Existenz legitimieren zu wollen: man möchte, ja muss fast, mehr sein als nur Kunst, als hätte Kunst als Selbstzweck im Angesicht all der dringlicheren Probleme ihre Daseinsberechtigung verloren. Mit dieser Unsicherheit steht die Biennale von INNSBRUCK INTERNATIONAL bei Weitem nicht allein da. Eine Kunst, die nichts als politisches Sprachrohr sein will, verkommt aber vom Lebendigen zum Nutzgegenstand – ähnlich der Tiere im Garden of Earthly Delights vielleicht. Gleichzeitig verlieren politische Aussagen ihre Bedeutung, wenn sie über Kunstwerke gestülpt werden, die sich auf keine klare Interpretation festnageln lassen. Kunst kann eben gerade dann am besten mit uns kommunizieren, wenn sie keine klaren Worte findet, mehr vielleicht etwas andeutet, antastet, zu dem wir vorher keinen Zugang gefunden, das wir vorher nicht gespürt haben. Durch HEAVEN CAN WAIT finden schlussendlich doch spielerische und verkopfte Arbeiten zueinander; im Programm hat Tanz genauso Platz wie Politik. Die Stärken der Biennale liegen also vielleicht woanders, als dort, wo sie sie selbst vermutet. Welches Kunstwerk eine:n Besucher:in wie berührt, lässt sich ohnehin von keinem Broschürentext der Welt steuern. Dort kann man höchstens eine Auswahl erklären. Und den Rest muss man passieren lassen.
| Delia Salzmann
