komPOST #38 [S. Morin, U. Titelbach, D. Kovach]

Viele Geschichten ranken sich um die Betonie. Welche sind wahr, welche erfunden? Entdecken wir die Plastikpflanze im Gewirr der natürlichen Gräser? In komPOST # 38 begeben sich Sofie Morin, Ulrike Titelbach und Danylo Kovach ins Grüne.

The visible and invisible

Danylo Kovach, 2024*

*The performative project „The Visible And Invisible“ is dealing with disinformation in time of war as an essential ideological component of modern warfare. The spread of myths in the stories of some of my colleagues inspired me to create a video performance in which artificial, plastic flowers interfere with the natural landscape. This performance is an example of how important it is for us to distinguish between real information and artificial propaganda myths. The work was presented as live performance in the frame of the Solidarity Sculpture program of SEE:UA – connecting landscapes and KÖR – Kunst im öffentlichen Raum Wien


BETONIE (Betonica officinalis) 

Sofie Morin und Ulrike Titelbach, 2024 

Wo ein Missverständnis sie rund um die Kirche pflanzt, ist nicht der Beginn. Eine köstliche Fülle wird der Betonie mittelalterlich zugeschrieben, aber auch hier war sie schon lange zuvor, im bebauten Gefild gewöhnt er sie, sittsam zu werdeni, streut mit den Samen seine Fantasien über eine Frau, die ihm zu Willen wäre. (sm) 

In Büchern festgehalten schon seit der Antike – von einem Pionier der Pharmakologie: Pedanios Dioskurides. Der nannte sie bei ihren alten Namen: Kestron, Psychotrophon, Vettonica – und lobte ihre weichen, wohlriechenden Blätter, am Rande eingeschnitten,ii fein gezähnt. (ut) 

Scheinährenhaft ihr Blütenstand. Blattadern küssen, Blütenlippen. Über den Stängel feinnervig vernetzt mit jedem Blatt. Bis in die unterirdischen Rhizome. (ut) 

Labt der Falter sich am Nektar des Windstreuers, so war er nicht der Erste. Weiß von der erstaunlichen Kraft dieses Krautes, die in allem entspricht: grün gepflückt, getrocknet für den Winter, zu Most vergoren, rüstet den Körper gegen jedwede innere Not. Und auch äußere Wunden schließt es mit aller Macht fest. (sm)

Ranilistiii .. Wundblatt“ flüsterst du verwegen – mit unverkennbar slawischem Akzent. Das schließt die Wunde und es stillt den Schmerz. Man sagt Betonien sind Halblichtpflanzen. Wirken nicht heimlich, aber im Verborgenen. Herznah in einem Amulett um deinen Hals getragen sind sie am besten aufgehoben. (ut) 

Rauch es wie Tabak gegen den Kopfschmerz, oder trag es mit roter Wolle ums Handgelenk geschlungen. Alles ein Gelingen. In Italien verkaufst du gar deinen Mantel und kaufst Betonien dafür. (sm) 

Würzt damit Wein und dunkles Bier. Und manches Mal trinkst du es auch heiß abgebrüht. Mit deiner Liebsten auf dem Kanapee: St. Antonys Tea iv tief dunkles Gelb aus engen Tassen. Gewiss wirst du den Mantel nicht vermissen … (ut) 

i aus Walahfrid von der Reichenau: De cultura hortorum.
ii Pedanios Dioskurides: De materia medica. Viertes Buch, Kapitel 1.
iii Im Serbischen und im Kroatischen wird die Betonie Ranilist(wörtlich übersetzt: Wundblatt) genannt.
iv Echte Betonie war im Mittelalter in den angelsächsischen Ländern auch als St. Antony’s Tea bekannt.

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Bios

Danylo Kovach

Danylo Kovach was born in 1992 in the city of Zaporizhzhya, Ukraine. Since 2022 he has been living and working in Vienna.
His work focuses on graphics, painting, installation and performance. Danylo Kovach’s works are kept in museums in Ukraine: Kherson Museum of Contemporary Art and Khmelnytsky Regional Art Museum as well as in private collections.

@danya_kovach

SOFIE MORIN

*1972 in Wien, lebt bei Heidelberg, Studienabschlüsse in tierischer Verhaltensforschung und menschlicher Philosophie, unterhält gern Dialoge: Im poetischen Austausch ist sie mit 14 Autorinnen zu Frauen lieben lernen. Debüt mit Dorina Marlen Heller: Schwestern im Vers. Zwiesprachen zwischen morgen und Frausein. 2024 erscheint: Liebeleien mit Wuchsformen mit Zeichnungen von Heinrich Steinfest. Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge mit Ulrike Titelbach. Auf Instagram @sofie_morin gehen ihr Steine im Wald und anderes #andiePoesieverloren. 

ULRIKE TITELBACH

ist Autorin, Herausgeberin sowie promovierte Germanistin. 2021 wurde in der edition offenes feld ihr erster Lyrikband Fragile Umarmungen publiziert. Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge (gemeinsam mit Sofie Morin) und augen im hoiz. kurzgedichte in zwei klangfarben erscheinen 2024 in der Wiener Edition Melos. Die literarische Arbeit der Autorin wurde durch mehrere Stipendien und Preise öffentlich gewürdigt (Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt WienFeldkircher Lyrikpreis 2023 u.a.). 

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