Wer bringt heute noch das Mikrofon ins Dorf? BENEDIKT KAPFERER schreibt über 100 Jahre Radiogeschichte in Tirol 

Diesen Herbst hat der junge Journalist Benedikt Kapferer sein erstes Buch Das Mikrofon im Dorf  veröffentlicht – eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Radios in Tirol, zeitnah zum 100-jährigen Jubiläum des Mediums. Das Werk liegt dem Forschungsprojekt „Geschichte des Rundfunks in Tirol“ zugrunde, das Kapferer von 2021 bis 2022 am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck durchgeführt hat. Dieses vom ORF finanzierte Projekt hatte das Ziel, insbesondere die Frühphase des Radios in Tirol und dessen Verflechtungen mit der NS-Zeit zu beleuchten.

Kapferers Recherchen decken die Zeit von den 1920er- bis in die 1970er-Jahre ab und zeichnen ein differenziertes Bild der Brüche und Kontinuitäten. Dabei untersuchte er auch die Rolle von Personen, die trotz ihrer politischen Verstrickungen im Austrofaschismus und Nationalsozialismus später im Rundfunk tätig blieben. Nach Abschluss des umfassenden Berichts erweiterte Kapferer seine Untersuchungen, um die Entwicklung des Radios in Tirol bis in die Gegenwart zu dokumentieren. Das Ergebnis ist nun als Buch im Tyrolia Verlag erschienen. Wir waren bei der Buchpräsentation im Zeughaus Innsbruck dabei (wo außerdem noch bis 31. August 2025 die Sonderausstellung „UNSICHTBARE WELLEN: 100 JAHRE RUNDFUNK“ zu sehen ist). Im Interview mit dem Autor erfahren wir mehr über den Entstehungsprozess seines Werkes und seinen persönlichen Ansichten, wenn es um die Zukunft des Radios geht. 

Benedikt Kapferer mit seiner Publikation | Foto: BK Tyrolia

komplex: Wer ist dieser Mann auf dem Buchcover?

Benedikt Kapferer: Das ist Ernst Grissemann (der Vater von Christoph Grissemann), eine wahre Radiopionierfigur in Tirol. Er wurde 1934 in Imst geboren und mit etwa 20 Jahren begann er beim Landessender Tirol, der damals noch im Landhaus untergebracht war, als Sprecher. Dort wurde er 1967 vom Generalintendanten in Wien abgeworben, um Ö3 mitaufzubauen. Grissemann prägte Ö3 maßgeblich in den ersten Jahrzehnten und wurde durch populäre Formate wie dem Song Contest oder das Neujahrskonzert eine bekannte Stimme in Österreich.

Ich durfte ihn noch interviewen, bevor er starb. Es hat mich sehr bewegt, als er mir wenige Monate vor seinem Tod schrieb, dass es mir mit meinem Bericht gelungen sei, Pionierarbeit zu leisten – das hat mich zusätzlich motiviert, das Thema weiterzuverfolgen. 

komplex: Dein Buch lebt von vielen Anekdoten rund um Radiogeschichte in Tirol. Gibt es eine Geschichte, die dich während der Recherche besonders bewegt hat?

Kapferer: Es fällt schwer, einzelne Geschichten hervorzuheben, weil mich vieles begeistert hat. Besonders bereichernd waren die persönlichen Interviews, wie eben die Begegnung mit Ernst Grissemann – seine Stimme, die ja als „The Voice“ bekannt war, hatte etwas Herzerwärmendes und ihn auf diesen Weg noch kennenlernen zu dürfen, war sehr schön. Aber auch andere Interviews waren beeindruckend, etwa mit Andi Knoll, der viele spannende Einblicke in die aktuelle Radiolandschaft bot, oder Melanie Bartos, die sich intensiv mit Wissenschaftskommunikation auseinandersetzt. Und auch das Gespräch mit Mareta Luchner, einer feministischen Radiopionierin, die sich schon früh dafür einsetzte, Frauen eine Stimme im Rundfunk zu geben. 

Besonders faszinierend fand ich zum Beispiel die Geschichte von Artur Schuschnigg, dem Bruder von Kurt Schuschnigg (dem letzten österreichischen Bundeskanzler vor dem „Anschluss“ 1938). Artur war in den 1930er-Jahren ein innovativer Radiogestalter in Tirol. Er nutzte das Medium, um anspruchsvolle kulturelle Inhalte zu vermitteln, und war gut vernetzt in intellektuellen Kreisen – etwa mit Stefan Zweig, Franz Werfel oder Alma Mahler. Er wurde nach dem Einmarsch der Nazis entlassen, weil man ihm vorwarf, dass er mit vielen jüdischen Künstler:innen verkehrte. Anschließend war er in Berlin bei der Wehrmacht und nach dem Krieg kam er zurück nach Tirol, wo er eine entscheidende Rolle beim Aufbau des Besatzungsradios spielte, das in der Nachkriegszeit enorm wichtig für die kulturelle und politische Orientierung der Bevölkerung war. Er hatte einen spannenden Werdegang.  

komplex: Bei der Präsentation im Zeughaus hast du auch von den Schwestern Gastgeber erzählt, die Pionierinnen im Sounddesign waren…

Kapferer: Ja, das war ein glücklicher Archivfund im ORF-Multimediaarchiv. Margarete Gastgeber war ab 1927 eine der ersten weiblichen Sprecherinnen in Europa. Sie und ihre Schwester experimentierten mit kreativem Sounddesign, wie man heutzutage sagen würde, – sie liefen mit Kuhglocken um das Mikrofon oder imitierten mit einer Klospülung einen Wasserfall. Das zeigt, wie innovativ Radioproduktion damals war.

komplex: Hast du auch politisch brisante Archivschätze entdeckt? 

Kapferer: Absolut, etwa ein Gedächtnisprotokoll aus dem Tiroler Landesarchiv über eine medienpolitische Konfrontation zwischen dem Generalintendanten Gerd Bacher und dem Landeshauptmann Eduard Wallnöfer von 1967. Sie stritten darüber, wer den Chef des Tiroler Rundfunks bestimmen dürfe. Das Dokument zeigt, wie politisch aufgeladen Medienentscheidungen waren, wenn es um die Besetzung von wichtigen Posten ging – ein Thema, das bis heute aktuell ist.

Auszug aus dem Aktenvermerk von Landeshauptmann Wallnöfer über die Konfrontation mit Gerd Bacher | Bild: TLA, Kanzlei LH, Sammelakten

komplex: Bist du während deiner Recherche auch auf Tiroler Radiosendungen aus der Vergangenheit gestoßen, bei denen du es schade findest, dass es sie nicht mehr gibt?

Kapferer: Ja, beispielsweise „Das Mikrofon im Dorf“, nach der auch mein Buch benannt ist. Es war eine Sendung, die von 1967 bis in die 1980er Jahre Tiroler Gemeinden porträtierte. Es ging darum, die Themen und Stimmen auch aus abgelegenen Regionen sichtbar zu machen, durch Interviews mit Persönlichkeiten aus den Gemeinden, mit Chor- und Blasmusik. Mir imponiert der Gedanke, dass man sich auch außerhalb des Landeszentrums in entlegene Täler und Dörfer begibt, um zu erfahren, welche Themen die Menschen dort fernab der Weltpolitik beschäftigen. 

komplex: Wie schätzt du die Rolle des Radios als identitätsstiftendes Medium ein?

Kapferer: Das Interessante dabei ist, dass Radio ja von Anfang an ein grenzüberschreitendes Medium war, das die Menschen miteinander verbunden hat. Gleichzeitig hat man aber immer versucht, damit auch Grenzen zu schaffen, um regionale Identitäten zu stärken oder ein neues „Wir-Gefühl“ zu generieren. Etwa in Tirol, wo man einen eigenen Regionalsender forderte, um Themen unabhängig von der Bundeshauptstadt Wien zu gestalten. 

komplex: Gab es Momente, in denen du bei der Recherche an Grenzen gestoßen bist?

Kapferer: Ja, vor allem während der COVID-19-Pandemie, als Archive nur eingeschränkt zugänglich waren. Ich hätte gerne intensiver im Bundesarchiv in Berlin recherchiert, weil dort viele relevante Akten aus der NS-Zeit liegen, aber das war nur digital und begrenzt möglich. Ähnlich ging es mir mit anderen Archiven. Aber auch Zeitressourcen sind immer eine Herausforderung, wobei eine Begrenzung hier auch wichtig ist, ansonsten würde man nie zu einem Ende kommen.

komplex: Mittlerweile arbeitest du selbst für den ORF. Wie bist du mit diesem Näheverhältnis umgegangen?

Kapferer: Das hat mich während der Arbeit an meinem Buch sehr beschäftigt. Deshalb war es mir wichtig, eine kritische Erzählung zu schreiben, etwa zur NS-Belastung von Personen oder zur politischen Nähe des Rundfunks in der Zeit im Landhaus. Mein Fokus lag jedoch nicht auf einer reinen Institutionengeschichte, sondern auf der mediengeschichtlichen Entwicklung des Radios in Tirol. Es ist jedenfalls keine beschönigende Darstellung, gleichzeitig aber auch eine Würdigung vieler Leistungen.

Buchpräsentation im Zeughaus (auf der Leinwand zu sehen ist das Ravag-Studio, das sich ab 1929 im ersten „Hochhaus von Innsbruck“ befand) | Foto: Alena Klinger

komplex: Wie siehst du die Zukunft des Radios in Zeiten von Digitalisierung und Podcasts? 

Kapferer: Der Stellenwert des Radios ist nicht mehr so dominant wie früher, vor allem wegen der Konkurrenz durch Fernsehen und digitale Medien. Aber Audio bleibt wichtig – gerade in einer Zeit der Bilderflut ist es fast ein Luxus, nur mit dem Gehör Informationen aufzunehmen. Ich glaube, dass Audioformate, die leicht zugänglich und viel einfacher produzierbar sind, weiterhin eine Rolle spielen werden – sei es das Radio oder der Podcast, die beide auch wiederum voneinander profitieren. Radio hat in Österreich immer noch eine enorme Reichweite, mit rund sechs Millionen Hörer:innen täglich. Das ist beeindruckend.

Aber auch die Magie der Stimme ist hier noch was Besonderes – Audioformate leben sehr von der persönlichen Gestaltung und dem Wiedererkennungswert. 

komplex: Hast du eine Lieblingsradiostimme? 

Kapferer: Das ist schwer zu sagen, weil es so viele großartige Stimmen gibt. Besonders geprägt hat mich die Stimme von Thomas Kamenar (Ö3) in meiner Jugendzeit, den ich auch selbst für das Buch interviewt habe. Außerdem höre ich gerne die Stimmen im Ö1-Morgenjournal – das begleitet mich täglich. Aber es gibt viele Sprecher:innen, die ich sehr schätze.  

komplex: Wie siehst du die Entwicklung von KI in Hinblick auf die Medienlandschaft – Chance oder Gefahr?

Kapferer: Beides. Es gibt schon jetzt Experimente, die zeigen, was möglich ist – aber auch, welche Gefahren das birgt. In Polen gab es kürzlich einen Vorfall, bei dem ein Radiosender ein Interview mit einem bereits verstorbenen Künstler ausgestrahlt hat, das KI-generiert war. Das wurde natürlich als Fehler aufgedeckt, aber es zeigt, wie weit wir technisch schon sind. 

Auch in Österreich gibt es Überlegungen, wie man KI einsetzen kann, zum Beispiel bei der automatischen Erstellung von Nachrichten. Es gibt dafür sicher Potenzial, aber ich sehe auch die Gefahr fehlerhafter Informationen und der Frage, wer entscheidet, was relevant ist. 

Ravag-Reporter Balduin Naumann kommentiert den 50km Langlauf in Seefeld bei den FIS-Wettkämpfen am 13. Februar 1933, ÖNB/Wien, RÜ 1-2-55 | Foto: Lothar Rübelt

komplex: Wird KI irgendwann die menschliche Radiostimmen ersetzen?  

Kapferer: Auch wenn dies möglich ist, glaube ich, dass viele Menschen sich weiterhin von echten Stimmen unterhalten und informieren lassen wollen. Eine echte Stimme hat eine Wärme, Spontaneität und Menschlichkeit, die KI einfach nicht bieten kann. Man spürt, wenn jemand aufgeregt ist oder Emotionen transportiert – das ist authentisch und lebensnah. Vielleicht denken manche, dass es egal ist, wer oder was spricht, aber ich selbst bin überzeugt, dass menschliche Stimmen einen unersetzbaren Wert haben.  

komplex: Was ist dir persönlich ein Anliegen, wenn es um die Zukunft des Radios in Tirol geht?

Kapferer: Ich finde es wichtig, dass man Radio nicht nur global denkt, sondern auch lokal und regional. Wer bringt das Mikrofon ins Dorf? Wer schaut in die abgelegenen Täler, was dort kulturell und politisch passiert? Ich finde es essenziell, den Lokal- und Regionaljournalismus zu fördern und ihm Bedeutung beizumessen. Es geht darum, auch die eigene Nachbarschaft im Blick zu behalten und das nicht zu vergessen. Radio kann hier eine große Rolle spielen – und das sollte es auch weiterhin tun.  

| Brigitte Egger

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