In der aktuellen Art Box – Ausstellung im Rahmen des Stipendiums der Klocker Stiftung in Hall präsentiert der Künstler Fabian Reetz noch bis 27. April 2025 seine Arbeit, die sich mit den Mechanismen der Gothic-Subkultur, Archivierung und Materialgeschichte auseinandersetzt. Reetz, geboren 1997 in Bad Salzungen, studierte an der Bauhaus-Universität Weimar und führt seine künstlerische Ausbildung derzeit an der Akademie der Bildenden Künste in Wien fort. Sein Projekt East German Gothic Study, das er während der Künstlerresidenz in der Klocker Villa weiterentwickelte, verbindet persönliche Erfahrungen mit einer Untersuchung subkultureller Strategien.

Die Klocker Stiftung vergibt seit 2022 jährlich ein Stipendium an junge Künstler:innen, die bis zu einem Monat in die Villa Klocker eingeladen werden, um dort ein Konzept für die Art Box des Klocker Museums zu erarbeiten. Ziel des Programms ist es, Nachwuchskünstler:innen zu fördern und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeiten über einen längeren Zeitraum auszustellen, während sie sich zugleich mit der einzigartigen räumlichen Herausforderung des Ausstellungsraums auseinandersetzen. „Für uns ist es immer spannend zu sehen, wie sich junge Menschen auf den Raum, der von seiner Form und seinem Erscheinungsbild nicht einfach zu bespielen ist, einlassen und mit ihm umgehen“, sagt Lena Ganahl, Leiterin des Klocker Museums.
In den vergangenen Jahren wurden bereits mehrere junge Künstler:innen für das Stipendium ausgewählt: Veronika Abigail Beringer, Janine Weger, Lukas Dworschak und Katharina Theresa Mayr. „Fabian Reetz haben wir tatsächlich über Instagram entdeckt, wir waren neugierig, mehr über seine Arbeiten zu erfahren“, sagt Ganahl. Sein Portfolio überzeugte das Kuratorium durch seine konsequente Beschäftigung mit dem Material Schiefer, das eine starke Verbindung zu seiner Herkunftsregion aufweist. „Besonders interessant war seine Herangehensweise, mit der er skulpturale, installative und räumliche Konzepte miteinander verknüpft“.
Die Verbindung von Gothic-Subkultur und Materialgeschichte
Ein zentrales Thema in Reetz‘ Arbeit ist die Frage, wie Subkulturen entstehen, sich manifestieren und archiviert werden können. „Subkultur wird immer versteckt in etwas, das nur innerhalb eines bestimmten Bezugssystems dechiffriert werden kann“, erklärt Reetz. Besonders interessiere ihn, wie sich subkulturelle Erfahrungen in institutionellen Kontexten bewahren lassen und was dabei möglicherweise verloren geht. Als Inspiration dienen ihm dabei die Theorien und Arbeiten von Carol Tulloch – sie ist Professorin für Kleidung, Diaspora und Transnationalismus an der University of the Arts London und behandelt in ihren Werken (u.a. in The Birth of Cool: Style Narratives of the African Diaspora, 2016; The Persistence of Taste: Art, Museums and Everyday Life after Bourdieu, 2018) das Thema persönlicher Archive und deren Lückenhaftigkeit. „Das Material, das eigentlich ins Archiv gehört, findet man meist auf Dachböden, nicht in offiziellen Sammlungen“, bemerkt er. Seine Arbeiten nehmen oft eine archivarische Funktion ein, jedoch mit einem bewusst kritischen Blick auf die Mechanismen der Geschichtsschreibung:
„Ich arbeite gerne mit Menschen zusammen, die in der Szene aktiv sind, um präzisere Geschichten wahrzunehmen und diese in verschlüsselter oder bruchstückhafter Form wiederzugeben“.
Dabei entwickelt er neue Methoden der Dokumentation, indem er beispielsweise historische Materialien mit digitalen Fundstücken wie Fan-Fiction kombiniert.

Ein zentrales Motiv in seinen Arbeiten ist Schiefer, ein Material, das sowohl architektonische als auch symbolische Bedeutungen trägt. Aufgewachsen in der Nähe des ostdeutschen Schiefergebiets Thüringen, entdeckte er Parallelen zwischen der Schichtstruktur des Gesteins und der Ästhetik der Gothic-Subkultur. „Die Art, wie Schiefer gedeckt wird, funktioniert nach bestimmten Regeln und kann eine Codierung enthalten, ähnlich wie Subkultur Zeichen und Symbole nutzt“, erklärt er. Zudem erkennt er eine Verbindung zwischen der Schichtung des Schiefers und den geschichteten Elementen von Kleidung innerhalb der Gothic-Szene:
„Die Schieferplatten lassen sich auch als eine Form der textilen Schichtung interpretieren, vergleichbar mit den mehrlagigen Kleidungsstilen in der Szene.“
Der Künstler überträgt diese Materialgeschichte auf seine Skulpturen, indem er etwa ein für den Innenraum bestimmtes Säulenelement mit Schieferplatten eindeckt. „Manche Gothic-Clubs haben Säulenelemente, die oft ornamental und bedeutungsvoll sind. Indem ich ein eigentlich für den Innenraum bestimmtes Säulenelement mit Schieferplatten bedecke, nimmt das Material eine neue Bedeutung an und verliert zugleich seine ursprüngliche Schutzfunktion vor Witterung“. Besonders fasziniert ihn dabei, dass sich Subkulturen und ihre DIY-Praktiken oft aus einem Mangel heraus entwickeln, ähnlich wie das traditionelle Schieferdecken aus begrenzten Ressourcen Strategien formte.

Open Queerness und völkisches Gedankengut
– Die Diversität und Widersprüche einer Szene
Neben der Materialgeschichte beschäftigt sich Reetz mit der kulturellen und sozialen Dynamik der Gothic-Subkultur, insbesondere mit ihrer queeren Dimension.
„Die Szene ist sehr queer – es gibt ähnliche Konventionen für Männer und Frauen, wie sie sich stylen. Lippenstift und auftoupierte Frisuren sind geschlechtsunabhängig. Es geht um eine Selbsterschaffung, die in der Romantik und im Idealismus verwurzelt ist“,
beschreibt er. Darüber hinaus verweist er auf den Körperkult innerhalb der Szene, der sich in Piercings, ausgeprägten Frisuren und stilisierten Outfits zeigt. Diese ästhetischen Strategien greifen auch in transhumanistische Ideen über, die den Körper als formbare und erweiterbare Einheit verstehen. „Die Gothic-Szene ist ein Ort, an dem nicht hinterfragt wird, wie man ist, sondern an dem man sich selbst neu erfinden kann“, so Reetz. Damit bietet sie insbesondere queeren Menschen einen geschützten Raum, in dem sie sich jenseits gesellschaftlicher Normen ausdrücken können.

Im krassen Gegensatz dazu entwickelten sich seit den 1990er Jahren innerhalb der Szene parallel musikalische Strömungen, die vorrangig mit deutschen Texten arbeiteten und in Musikzeitschriften als „Endzeitromantiker“ beschrieben wurden. Wie Reetz betont: „Durch harsche Auftritte und okkulte Inszenierungen verengt sich der Raum für zarte Selbstfindung wieder“ – somit entstand eine Ästhetik, die sich zunehmend von der offenen und queeren Selbstinszenierung entfernte. Manche dieser Gruppen begannen, mit völkischen oder nationalistischen Symbolen zu spielen, wodurch der subkulturelle Raum – für viele ein Ort der Selbstfindung und Freiheit auf verschiedensten Ebenen – wieder enger und ideologisch vereinnahmt wurde.
Dieser Kontrast zwischen der queeren Offenheit der Szene und ihren zugleich teils reaktionär aufgeladenen Strömungen ist ein Spannungsfeld, das Reetz in seinen aktuellen Recherchen besonders interessiert. Hier scheint, dass eine genauere Analyse solcher widersprüchlicher Phänome, wie sie in Subkulturen auftreten, einen wertvollen Beitrag dazu leistet, die Komplexität unserer Gesellschaft anzuerkennen und zu verstehen, wie sich unterschiedliche Erfahrungen und Sozialisierungen gegenseitig beeinflussen. Gerade bei Subkulturen – von denen ja erst die Rede sein kann, sobald sie als solche definiert wurden – zeigt sich, dass diese dennoch stets dynamische Gebilde sind und sich je nach Zeit und Region weiterentwickeln.

Auch wenn der Höhepunkt der Gothic-Szene vermutlich bereits in der Vergangenheit liegt, sieht Reetz Gothic nicht als rein nostalgische Bewegung, sondern als eine sich ständig weiterentwickelnde Subkultur: „Die Szene hat sich geografisch und räumlich stark verlagert, es gibt mittlerweile große Communities in der Türkei, in Mexiko und in Lateinamerika – aber vieles passiert heute auch online.“ Dabei bleiben die Grenzen zwischen kritischer Auseinandersetzung, individueller Inszenierung und ideologischer Aufladung fließend.
„East German Gothic Studies“ im Haller Klocker Museum

Für die aktuelle Ausstellung entwickelte Reetz speziell auf die räumlichen Gegebenheiten der Art Box abgestimmte Arbeiten. Während er kleinere Werke bereits in Wien produzierte, entstand eine großformatige Skulptur direkt vor Ort. „Die war nicht einfach zu realisieren, weil Schiefer ein schweres Material ist“, erinnert sich Reetz. Zudem bespielt er die Vitrinen vor dem Eingang des Museums, die ihn aufgrund ihrer klassischen musealen Archivfunktion besonders reizten. Hier präsentiert er ein installatives Archiv, das Vorschläge liefert, wie sich subkulturelle Erfahrungen institutionalisieren lassen. Zu den Arbeiten gehören unter anderem geteilte Schiefersteine, deren Innenseiten mit Lasergravuren von Fan-Fiction-Texten versehen sind. „Wenn man das sieht, schaut es eher aus wie ein archäologisches Fundstück – es ist aber ein Internetfossil“, beschreibt Reetz die Verbindung zwischen Material und digitaler Subkultur.
Seine künstlerische Praxis bewegt sich an der Schnittstelle zwischen persönlicher Faszination, historischem Bewusstsein und einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit Materialien und deren gesellschaftlicher Bedeutung. „Ich möchte keine festgelegte Geschichte erzählen, sondern Mechanismen sichtbar machen und ungewohnte Sichtweisen anwenden“, fasst er zusammen.

Obwohl Reetz’ Arbeit inhaltlich stark mit Thüringen und Deutschland verbunden ist, lässt sich ein indirekter Bezug zur Region um Hall herstellen. In Tirol gibt es ebenfalls traditionelle Handwerke, insbesondere im Baubereich, die sich mit kulturellen Entwicklungen verknüpfen lassen. Wie die Klocker Stiftung betont, wird die Verbindung zwischen Tradition und Subkultur zunehmend wichtiger und ist ein wiederkehrendes Thema im Kunst- und Kulturbereich.
Die Arbeiten von Fabian Reetz sind somit nicht nur künstlerische Objekte, sondern auch eine Reflexion darüber, wie Geschichte, Subkultur und Identität miteinander verwoben sind – und wie sie in neue Kontexte übersetzt werden können.
| Brigitte Egger
