Geschichten in Pixel und Knoten: MICHELLE SCHMOLLGRUBER über ihre Arbeit im Dokumentationsarchiv Migration Tirol (DAM)

Ich treffe mich mit Michelle Schmollgruber, um über ihre künstlerische Arbeit zu sprechen. „Zuerst möchte ich dir etwas zeigen“, sagt sie, holt eine Schachtel aus ihrem Rucksack und öffnet sie vorsichtig. Nochmals in Papier gehüllt, scheinen bereits bunte Fäden hervor. Ganz ausgepackt wirkt das Objekt wie ein quallenartiges Wesen – aus unterschiedlichen Fasern und Farben, manche länger, manche kürzer, manche geordnet, manche tanzen aus der Reihe. Es hat etwas Anziehendes an sich, eine weiche, fluffige Gestalt, in die man am liebsten gleich hineingreifen möchte. Auf der Rückseite offenbart die Knüpftechnik ein pixelartiges Raster, fast wie ein eingeschriebener Code. Es scheint, als würde eine verschlüsselte Geschichte dahinter liegen – und tatsächlich sind es mehrere Geschichten, wie die Künstlerin gleich erklärt.


Im Rahmen ihrer Magic Carpets Residency 2025 entwickelte Schmollgruber diese textile Arbeit – die sie „Wir, mittendrin“ nennt – während ihrer Recherche im Dokumentationsarchiv Migration Tirol (DAM).

„Mich interessiert am Archiv die Möglichkeit, dass es einen Ort gibt, an dem man sich wirklich vertiefen kann. Ein Archiv ist ja eine offizielle Einladung, sich sorgfältig und genau mit Lebensgeschichten zu beschäftigen – was liegt da, was erzählt sich da, welche Zusammenhänge werden sichtbar?“ 

Die Recherche im DAM habe sie dazu geführt, wieder mehr Biografien anderer Menschen zu lesen: „Dadurch kann ich auch meine eigene Biografie und die von Menschen, die mir nahestehen, in Relation setzen.“

Einer der Hintergründe von Schmollgrubers künstlerischem Schaffen ist die Fotografie, durch die sie sich bereits seit Jahren auch mit Biografiearbeit beschäftigt. Nun überträgt sie das fotografische Festhalten von Augenblicken auf die handwerkliche Textilarbeit: Der Blick nach außen wird zu einer Introspektion. „Durch die Handarbeit kann ich besser begreifen. Beim Knüpfen habe ich Zeit, mich zu vertiefen in Gedanken, die an das Material gebunden sind“. Während Fotografie für sie ein „schnelles Medium“ ist – ein Bruchteil einer Sekunde, und das Bild ist getan – schafft die Handarbeit die Möglichkeit, Zeit zu dehnen. Erkennbar wird das insbesondere auch auf der Rückseite ihres Textilgewebes: „Der Ursprung davon war eigentlich die Fotografie – in ihrer Pixelhaftigkeit. Es ist wie eine Art Übersetzung von einem Medium ins andere: Aus einem Bild wird ein textiles Raster, wie ein Gewebe aus Pixeln.“ So entstehen Werke, die Biografie, Erinnerung und Material zu einer poetischen Form verweben. „Zeit ist für mich ein hohes Gut – und die Knüpfarbeit gibt mir Gelegenheit, sie mir herauszuholen“, sagt Schmollgruber. 

Während ihrer Recherche im DAM widmete sie sich nicht nur den Inhalten der Schachteln und Dokumente. Genauso aufmerksam beobachtete sie die Abläufe innerhalb des DAM, dies führte sie zu einem engeren Austausch mit der Leiterin, Christina Hollomey-Gasser. „Ich habe gemerkt, dass sich ihre und meine Position im Arbeitsleben ähneln – viel allein und selbständig zu arbeiten“, erzählt Schmollgruber. Im Gespräch mit Hollomey-Gasser wurde sie darin bestärkt, eine künstlerische Arbeit zu entwickeln, die stärker auf die Gemeinschaft hinarbeitet.


Ausgangspunkt war schließlich eine Einladung an das gesamte Team des ZeMIT, persönliche Materialien zu spenden – Wolle, Garne, Stoffstreifen, Seile. Jedes Stück trägt Spuren seiner Herkunft, Fragmente von Erinnerungen, Geschichten von Bewegung. „Die Geste des Auftrennens steht für den Akt des Loslassens, die Geste des Knüpfens für die neue Verankerung“, so Schmollgruber. Rund zweitausend Knoten fügen sich in ihrem Werk zu einem farbigen Gewebe zusammen, das an angeschwemmtes Treibgut erinnert: Bruchstücke, die eine neue Gestalt finden.

Begleitet wird die Textilarbeit von einem 58-Sekunden-Audioausschnitt aus einem mehrstündigen Interview, das die Künstlerin während ihrer Recherche im DAM gehört hat. In diesem Interview erzählt Ameer  einen Auszug seiner Lebensgeschichte – seine Fluchtgeschichte.

„(…) Ich habe noch nie die Sterne so groß gesehen, die waren unglaublich groß. Die Farbe vom Wasser war schwarz. Und der Himmel auch. (…)“ – Ameer

Arbeit „Wir, mittendrin“ von Michelle Schmollgruber, 2025 / Foto: Michelle Schmollgruber

Das DAM im Zentrum von ZeMIT: Geschichten im Fokus

Das Dokumentationsarchiv Migration Tirol sammelt und bewahrt Migrationsgeschichten und macht sie für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich. Der Fokus liegt auf Migrations- und Fluchtbewegungen nach Österreich seit 1945. Es ist damit ein Ort der Erinnerung und zugleich der Zukunft. „Ich versuche immer zu argumentieren, dass es um die Zukunft geht – die Dinge aufzubewahren, damit wir auch später aus der Vergangenheit lernen können“, sagt Hollomey-Gasser. Zugleich weist sie auf die Herausforderungen der Archivarbeit hin:

„Es sind immer ganz viele Lücken und Leerstellen dabei. Ein Interview oder eine Sammlung wird immer viele Teile ausblenden. Umso wichtiger ist es, den Prozess zu dokumentieren – auch, was aussortiert wurde und warum. Dann ist zumindest eine Spur gelegt.“

Seit seiner Gründung 2016 im Rahmen des Projekts Erinnerungskulturen arbeitet das DAM eng mit Partnern wie den Tiroler Landesmuseen und der Universität Innsbruck zusammen. Es ist am ZeMIT angesiedelt und versteht sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Kunst, Kultur und Öffentlichkeit. Dass nun eine künstlerische Arbeit direkt aus dem Archiv heraus entstanden ist, war auch für Hollomey-Gasser neu: „Für mich ist es spannend, weil ich selbst nicht so viel Ahnung habe von Kunst. Es können andere Perspektiven auf die Dinge entstehen, Dinge in Frage gestellt werden, und die Sammlung wird sichtbar. Und das ist ja das Ziel: Migration und die Erfahrungen der Menschen sichtbar zu machen – ob wissenschaftlich oder künstlerisch.“

Michelle Schmollgruber und Christina Hollomey-Gasser im DAM | Foto: Danijela Oberhofer Tonković

Möglich wurde diese Zusammenarbeit durch das europäische Residency-Programm Magic Carpets, kuratiert von Danijela Oberhofer Tonković in Zusammenarbeit mit openspace.innsbruck. Sie nahm vor wenigen Jahren Kontakt mit dem DAM auf und war bemüht, zusammenzuarbeiten, bis das Projekt schließlich Gestalt annahm. Für Hollomey-Gasser war das ein spannender Prozess: „Ich war neugierig, was daraus wird – und ich finde es toll, wenn sich jemand interessiert. Da muss man einfach immer die Türen offenhalten.“

Das DAM ist Teil des ZeMIT – Zentrum Migration Integration Teilhabe, das 1985 gegründet wurde. Seither berät es Menschen in Tirol und Vorarlberg in Fragen von Arbeit, Aufenthalt und Integration – kostenlos, vertraulich und mehrsprachig. Anfangs bestand das Team aus drei Personen, heute arbeiten dort 23 Mitarbeiter:innen, die neben Deutsch noch 18 weitere Sprachen sprechen. 2024 konnte das ZeMIT 5000 Menschen in ihren Anliegen unterstützen.

Neben der Beratung engagiert sich das ZeMIT seit den 1990er Jahren in Projekten gegen Rassismus und für Gleichberechtigung, Teilhabe und Emanzipation. Kultur- und Bildungsarbeit, Gesundheitsinitiativen und das DAM sind heute zentrale Säulen der Einrichtung.

Sein 40-jähriges Jubiläum feiert das ZeMIT am Dienstag, 23. September 2025 im Arkadenhof Innsbruck. Im Rahmen des Jubiläums wird auch Schmollgrubers Werk präsentiert – ein kollektives Erinnerungsstück, das biografische Stränge und Handwerk miteinander verknüpft und das ZeMIT symbolisch in einen neuen Abschnitt begleitet.

| Brigitte Egger


Die Arbeit entstand im Rahmen von Magic Carpets, einem europäischen Residency-Programm, das 2025 in Innsbruck-Wilten unter dem Motto „Just around the Corner“ realisiert wird. Im Mittelpunkt stehen Kunst als Werkzeug für Begegnung, Nachbarschaft und gemeinsames Gestalten. 

Am 4. Oktober 2025 lädt das Nachbarschaftsfest im Stadtteilzentrum Wilten zur öffentlichen Abschlusspräsentation ein – dort wird Schmollgruber ihre Arbeit neben den Projekten weiterer Residency Artists noch einmal präsentieren.

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