Weichenstellung für eine Dorfkultur der Zukunft: Symposium „Kultur im Dorf“

In Zeiten, in denen immer mehr junge Menschen ihrer Heimatgemeinde den Rücken zukehren, die großen Traditionsvereine als Hauptträger des ländlichen Kulturangebotes um ihre Mitglieder bangen und die Covid-Pandemie tiefe Furchen im öffentlichen und sozialen Leben hinterlassen hat, wird die Frage nach der Zukunft des kulturellen Lebens, vor allem auf dem Land, immer vordringlicher. Um Akteur:innen aus dem Kulturbereich und politische Entscheidungsträger:innen zu versammeln, Ideen auszutauschen und Pläne zu schmieden, organisierten die Tiroler Kulturinitiativen und der Kulturverein Grammophon in Zusammenarbeit mit dem Land Tirol am Freitag, 16. Juni, die 2. Auflage des Symposiums „Kultur im Dorf – Dorfkultur. Dritte Orte als Zukunftslabore für Tirol“ in Wattens. Für den konzeptuellen Rahmen der Diskussion sorgte die Idee der „Dritten Orte“, die für Modelle kultureller Begegnungsräume fruchtbar gemacht werden kann.

Illustration: Tiroler Kulturinitiativen

In Wattens spielt die Musik: Hereinspaziert in den Neuwirt

Wer am Freitag durch die gläsernen Flügeltüren den ehemaligen Tanzsaal des Gasthofs Neuwirt in Wattens betrat, konnte gar nicht anders, als sich von den Biedermeiersesseln, Brokatvorhängen, schummrigen Lustern und der Versammlung der kreativen Köpfe geradezu augenblicklich inspirieren zu lassen. Der Schauplatz ist nicht zufällig gewählt, kann der Gasthof Neuwirt doch ebenfalls auf eine lange Geschichte als kultureller Treffpunkt für Leute aus der Region zurückblicken – zu dem er nach jahrzehntelangem Stillstand auf Initiative des Kulturvereins Grammophon und in Zusammenarbeit mit den Wirtshausbetreiber:innen wieder aufgebaut wird. Alexander Erler, Obmann des Vereins, beschreibt eingangs, wie in dem traditionsreichen Gasthaus in den letzten Jahren ein zeitgemäßes Kultur- und Gemeinschaftshaus entstand und wie dieses weiterhin ausgebaut werden soll – mit dem Fokus auf „guter Gastfreundschaft“, worunter Erler eine gemeinsame Arbeitsweise, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und zivilgesellschaftliches Engagement versteht. Überhaupt ist Grammophon ein Vorbild in Sachen engagierter und vielfältiger Kulturarbeit auf dem Land: Der Verein und seine inzwischen 170 Mitglieder haben seit der Gründung 2009 über 200 Veranstaltungen organisiert und mit dem österreichweit bekannten Wiesenrock einen Wegbereiter für nachhaltige Festivalorganisation auf die Beine gestellt.

Viel Engagement, wenig Geld: Status Quo der Tiroler Kulturlandschaft

Dass die Kultur auch dem Land Tirol am Herzen liegt, zeigten die Vertreter:innen des Amtes der Tiroler Landesregierung durch Mitorganisation des Symposiums und rege Diskussionsbeteiligung. Auch Landeshauptmann Anton Mattle ließ es sich trotz Terminstresses nicht nehmen, zumindest einem Teil der Veranstaltung beizuwohnen und in seiner Rede die größtenteils ehrenamtliche Arbeit der Kulturschaffenden zu loben und die budgetären Einschränkungen in der Kultursubvention zu beklagen. Er wünscht sich, dass traditionelle und moderne Kultur ineinandergreifen und einen gemeinsamen Weg finden, der die Vielfalt der kulturellen Persönlichkeiten und Initiativen hervorstreicht. Seine Allegorie für die Sichtbarkeit der Tiroler Kulturarbeit: Tirol stecke in einer Sandwich-Position zwischen Vorarlberg und Salzburg und gehe dabei zuweilen unter. Die Frage bleibt, wie diese Aussage aufzufassen ist, denn im ersten Moment fallen dabei wohl eher weniger wohlwollende Konnotationen ein – soll es eine Rechtfertigung der von vielen freien Kulturinitiativen als unzureichend empfundenen (finanziellen) Unterstützung seitens der Politik sein? Oder ist es ein Achselzucken gegenüber oder gar eine Schmälerung der Leistung der Kulturschaffenden? Zum Glück hilft (die überhaupt fantastische) Moderatorin Katharina Erlacher dem Vergleich später auf die Sprünge: Denn wie man wisse, sei die Mitte des Sandwiches ja der Teil, der am besten schmeckt.

Home away from home: Dritte Orte für alle

Im nächsten Programmpunkt stellte Bertram Meusburger, stellvertretender Leiter des Vorarlberger Büros für Freiwilliges Engagement und Beteiligung und Initiator des Projekts LandStadt Vorarlberg, das Konzept der Dritten Orte und deren Potenziale für die Kulturlandschaft vor. Die Idee geht ursprünglich zurück auf den US-amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg, der die Dritten Orte erstmals in seinem Werk „Great Good Place“ (1989) beschrieb. Damit sind, kurz gesagt, neutrale, niederschwellige, informelle, hierarchiefreie Orte abseits von Zuhause (1. Ort) und Arbeitsplatz (2. Ort) gemeint, an denen die Menschen gerne zusammenkommen, sich austauschen, miteinander reden – ein zweites Wohnzimmer, an dem man sich mit seiner Wahlfamilie trifft. Zu Zeiten Oldenburgs waren das der Buchladen an der Ecke, die Kneipe, der Haarsalon, der Drugstore – in Tirol könnte man entsprechend die Kaffee- und Wirtshäuser als traditionelle Dritte Orte benennen.

Bertram Meusburger über Dritte Orte | Bild: Verena Nagl

Doch die Zeiten haben sich seit Oldenburg gewandelt. Es hat ein umfassender sozialer Wandel stattgefunden, wie Meusburger beschreibt, ein Rückzug ins Private, eine Verlagerung des sozialen Lebens auf die digitale Welt (nicht zuletzt befeuert durch die Pandemie). Die Menschen sind mobiler und weniger gebunden. Ihr Engagement ist kurzfristiger und pluralistischer geworden. Und das muss man auch im Hinblick auf kulturelle Partizipation mitdenken, verschiedenen Nischen bedienen, Inspiration und überraschende Begegnungen liefern, ein neues Kulturverständnis etablieren. Dritte Orte verschmelzen heute mit den ersten und zweiten, können überall sein, unterschiedliche Ziele verfolgen und Funktionen bieten – vom Co-Working-Space über kommerzielle Orte, Bildungsorte, öffentliche Orte im Freien bis hin zu temporären Orten. Es geht um Selbstermächtigung, Selbstorganisation und darum, räumliche Hürden oder Schwellen bzgl. des Zugangs zu überwinden.

Abhängig davon, welchen Zweck Dritte Orte verfolgen, können sie es schaffen, Jugendliche zu inkludieren, Randgruppen einzugliedern, Zugezogene anzusprechen und ihnen eine Heimat zu bieten, Engagement attraktiv zu machen, Dorfzentren zu beleben, Leerständen und Abwanderung entgegenzuwirken, sozialer Spaltung zu begegnen, Lebensräume urbaner zu gestalten und sich gleichberechtigt zu engagieren fernab von Parteipolitik. Dabei gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf Struktur, Führung, Infrastruktur: Wie schlicht oder üppig soll der Raum ausgestattet werden, wie stark will man das, was darin gemacht wird, lenken? Wer einen Dritten Ort (neu) gestalten möchte, sollte früh Gemeinden und Verwaltung ins Boot holen und die Menschen von der eigenen Idee überzeugen, sagt Meusburger, eine passende Organisationsform finden, Know-how bündeln und Kümmer:innen finden. Ein weiteres wichtiges Erfolgskriterium: Nicht nach den Orten, sondern nach den Leuten zu suchen. Also vor allem jene Räume zu gestalten, an denen sich die Menschen treffen bzw. immer schon getroffen haben – und daraus einen Ort zu machen, an dem sich jede:r einbringen, experimentieren, gemeinsam gestalten kann.

Wie sieht das in der Praxis aus? Drei Projekte, drei Länder und viele Ideen zum Mitnehmen

Im Anschluss kamen die Vortragenden aus der Schweiz, Italien und Oberösterreich zu Wort, um ihre Projekte vorzustellen und zu zeigen, wie die Umsetzung von Dritten Orten erfolgreich aussehen kann. Den Anfang machte La Foresta aus Rovereto (Trentino, Italien), vorgestellt von Bianca Elzenbaumer, Mauro Previdi und Marco Mozelt, die damit eine Gemeinschaftsakademie am stadteigenen Bahnhof geschaffen haben. Im 140 Quadratmeter großen multifunktionalen Areal im Bahnhofsgebäude kommen Kulturvereine, Wissenschaftler:innen, Sozialgenossenschaften sowie Akteur:innen aus Gemeindeverwaltung und Sozialarbeit zusammen, um Kultur und eine nachhaltige Zukunft zu gestalten. Das Projekt soll in den kommenden Jahren noch weiter ausgebaut und zu einem Knotenpunkt für Gemeinschaftsprojekte in der 40.000-Einwohner:innen-Region werden.

In der Kleinstadt Lichtensteig in St. Gallen (Schweiz) wurden seit 2019 mit dem Rathaus für Kultur vielfältige kulturelle Impulse für eine von wirtschaftlichem Rückgang und Abwanderung betroffenen Region geleistet – ausgehend von einer Zukunftskonferenz 2013, die die kulturelle Belebung der Kleinstadt forcierte. Stadtpräsident Mathias Müller, Mitinitiatorin Sirkka Ammann und Künstler Hanes Sturzenegger erzählen von den Ausstellungs- und Proberäumen, den Kulturresidenzen, Veranstaltungsräumlichkeiten und Gastronomiebereichen, die im historischen Rathaus geschaffen wurden. Das Pilotprojekt läuft 2024 aus, wurde jedoch bereits verlängert, mit dem Ziel einer dauerhaften Nutzung für kulturelle Zwecke.

Zuletzt stellten Bürgermeister Sepp Wall-Strasser und Mitinitiator Thomas Auer das Projekt Altes Hallenbad ihrer Gemeinde Gallneukirchen vor. Nach der Schließung des Hallenbads 2013 und zahlreichen Konzepteinreichungen für seine Zwischennutzung in den darauffolgenden Jahren wurde 2022 ein Beteiligungsprozess ins Leben gerufen, aus der der Dachverein Kulturpool Gusental hervorging. Nach jahrelangem Ringen um die kulturelle Nutzung des leerstehenden Gebäudes wird nun das Hallenbad als Kulturstätte in zwei Wochen mit einem Festival feierlich eröffnet.

Jetzt geht’s ans Umsetzen: TKI-Förderprojekt für Gemeinden

Im Anschluss an die Projektvorträge stellte Helene Schnitzer, Geschäftsführerin der Tiroler Kulturinitiativen, das Projekt Kultur vor Ort vor, eine Kooperation der TKI und dem Land Tirol, das zum Ziel hat, Tiroler Gemeinden bei einem Kulturentwicklungsprozess zu unterstützen. Mittels Vorerhebung, Workshops und Nachbereitung und über einen Zeitraum von ca. drei Monaten sollen die Stärken und Potenziale der Gemeinde herausgearbeitet und konkrete Schritte für die Umsetzung entwickelt werden. Dafür wird der Gemeinde ein:e Prozessbegleiter:in zur Seite gestellt, und darüber hinaus jede:r dazu eingeladen, sich zu beteiligen: Kulturarbeitende im Ort, Mitarbeitende der Verwaltung, Vertreter:innen aus den Bereichen Jugend, Bildung oder Tourismus. Die Kosten für den Prozess werden zur Hälfte vom Land Tirol übernommen.

Blick über den Saal mit Helene Schnitzer auf der Bühne | Bild: Verena Nagl

Startschuss für die Fragerunde: Was kann Kultur für die Gemeinde leisten?

Was tun mit dieser Vielfalt an Informationen, die uns in den letzten Stunden entgegengebracht wurde? Genau: Erst mal drüber reden. Die Vortragenden wurden dazu aufgefordert, Tische im Saal und in der angrenzenden Stube zu besiedeln und das Publikum dazu eingeladen, sich dazuzusetzen, nachzufragen, sich mit konkreten Fragen an die Projektverantwortlichen zu wenden, Kontakte auszutauschen oder einfach nur – so wie ich – von Tisch zu Tisch zu streifen und zuzuhören, was die Leute interessiert. Hier ein paar Gedanken, die in den Diskussionen besprochen worden: 

  • Eine Zusammenarbeit von Gemeinde und Kulturvereinen kann nur funktionieren, wenn aktiv die Kommunikation gesucht wird. Regelmäßige Konferenzen vor Ort können helfen, gemeinsame Ziele zu formulieren oder einfach den gemeinsamen Terminkalender zu planen. Ein:e Koordinator:in als Schnittstelle zwischen den Parteien oder auch als Ansprechperson nach außen kann sinnvoll sein.
  • Kommunikation und Zusammenarbeit sind auch zwischen Nachbargemeinden oder innerhalb von Regionen wichtig, um gegenseitig voneinander zu profitieren – wenn jede:r sein:ihr eigenes Süppchen kocht, bringt das keinem was.
  • Bemerkenswert an den drei Projektbeispielen ist, dass immer die Gemeinde oder Stadtverwaltung den ersten Schritt getan hat bzw. von vorherein in den Projekten involviert war und sich dafür stark gemacht hat. Die Gemeinden müssen das Potenzial von Kultur erkennen. Kultur ist kein budgetärer Klotz am Bein, Kulturschaffende sind keine Bittsteller:innen.
  • Kultur bringt einen ideellen wie materiellen Mehrwert für Gemeinden – ich zitiere Mathias Müller aus seinem Vortrag: Der Ort wird aufgewertet, Künstler:innen bringen frischen Wind in den Ort, die mediale Wahrnehmung steigt, Veranstaltungen bringen Menschen aus der ganzen Region in den Ort, es wird mehr Umsatz generiert, Arbeitsplätze werden geschaffen.
  • Leerstand nutzen: Ungenutzte Gebäude in kulturelle Zentren zu verwandeln, bringt allen was – statt sie teuer abzureißen und den fünften Supermarkt im Ort zu eröffnen. Und: Die Sanierungskosten muss nicht die Gemeinde allein tragen, sondern können dann zwischen ihr und den Nutzer- und Veranstalter:innen des Gebäudes geteilt werden.
  • Wir müssen uns von einem Perfektionismus verabschieden. Es geht nicht darum, nur erfolgreiche Projekte zu veranstalten. Scheitern gehört dazu, daraus kann man lernen.
Gesprächsrunde im Freien | Bild: Verena Nagl

Alle ziehen an einem Strang und: Kultur lohnt sich – immer

Nach diesem inspirierenden und gedankenfüllenden Nachmittag fällt es gar nicht so leicht, Abschlussworte zu finden. Dafür wurden zum Schluss noch vier Redner:innen auf die Bühne gebeten und gefragt, was sie aus dem Symposium mitnehmen. Klar ist: eine solche Präsentations- und Diskussionsrunde, wie sie am Freitag stattgefunden hat, wird unweigerlich auf eine sehr idealistische Schiene geraten. Aber das ist gut so! Denn daraus kann man einen Haufen guter Ideen und Motivation mitnehmen, um endlich anzupacken.

Mir bleibt im Kopf, was Mathias Müller so gut ausgeführt hat: Es zahlt sich aus, in Kultur zu investieren. Geld, das in Kulturarbeit investiert wird, ist immer gut investiert.

– Melanie Wiener (Kulturabteilung Land Tirol)

Wenn alle an einem Strang ziehen, kann eine enorme Schaffenskraft freigesetzt werden. Leider wird man in Tirol als Kunstschaffender eher „toleriert“ – aber auch hier findet ein Wandel statt. Der Mehrwert von Kultur wird mehr und mehr erkannt. Lasst uns das fortsetzen.

– Alexander Erler (Grammophon)

Wie schaffen wir es, den Austausch von Politik und Kultur zu verbessern, wie geht das zusammen mit einem etablierten Kulturfördersystem? Wir müssen in einem anderen Tempo denken, eine andere Nachdenkqualität etablieren, ein Prozessdenken, das sich nicht nur an Output orientiert.

Helene Schnitzer (TKI)

Die Idee der Dritten Orte kann unheimlich gewinnbringend für Kulturschaffende sein, um Potenziale zu erkennen und Konzepte auszuarbeiten. Was erfüllen Dritte Orte in der heutigen Zeit, was andere nicht können? Es sind Heilungsorte, die in der jetzigen Zeit absolut notwendig sind. Sie erfüllen eines der elementarsten menschlichen Bedürfnisse nach sozialen Kontakten, stärken den Zusammenhalt. Für Sport, Infrastruktur etc. wird extrem viel Geld ausgegeben – aber dafür, dass Menschen zusammenkommen, nicht – das ist eigentlich ein Skandal.

Bertram Meusburger (LandStadt Vorarlberg)

| Julia Zachenhofer


LINKS

Mehr Informationen zur Veranstaltung und Folder zum Downloaden: https://www.TKI.at/veranstaltungen/kultur-im-dorf-dorfkultur/

La Foresta – Accademia di communità in Rovereto: https://laforesta.net/

Rathaus für Kultur in Lichtensteig: https://rathausfuerkultur.ch/

Altes Hallenbad in Gallneukirchen: https://kulturpool-gusental.at/Altes-Hallenbad-Gallneukirchen

Kultur vor Ort: https://www.TKI.at/projekt/kultur-vor-ort/

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