Nicht Innsbruck, Wien oder Berlin, sondern Bschlabs, Boden und Pfafflar: Das interdisziplinäre Kunstfestival medienfrische ging vom 26. Mai bis 21. Juni 2023 in seine zweite Austragung und das mitten in der abgekapselten Hochalpenregion des Bschlabertales im Tiroler Außerfern. Dort wo sonst Kühe weiden, Traktoren brummen und Landwirte ihr Heu ernten, wurden nun verfälschte Identitäten verteilt, Geschlechtsstereotypisierungen von männlichen Cheerleadern aufgebrochen oder aber 3-D generierte Pflanzen bestaunt, die aus Dorfkirchen wuchern. Der durchwegs riskante Versuch des Festivalgründers Daniel Dlouhy, progressives Kunstdenken auf abgeschiedenes Landleben prallen zu lassen, erwies sich als kluger Schachzug. Dieses Jahr versammelten sich unter dem Aufhänger der Künstlichen Intelligenz, genauer gesagt dem Motto irrlicht, Positionen experimenteller Kunst in von der Natur umrahmten Locations auf gut 1400m Seehöhe.

Mitten auf der Straße baut sich ein langer Tafeltisch auf, um dem herum Menschen auf Stuhlen Platz genommen haben und dinieren. Stünde der Tisch nicht mitten auf der Straße, hätte dieser Akt nichts Ungewöhnliches, er würde Zeichen eines gewöhnlichen Festmahles sein. So aber wird er zum Störungsmoment, zur Barriere für Menschen, die vorbeifahren müssen und nicht durchkommen. Zu dieser kollektiven Performanceaktion gehört, dass jede:r teilhaben kann. Mit dabei bei dieser zugegebenermaßen etwas außergewöhnlichen Eröffnung des Festivals medienfrische ist ein bunter Haufen an Künstler:innen, Organisator:innen, Einheimischen und Interessierten aus dem Umland. So mach ein:e Tourist:in hat sich möglicherweise auch hierher verirrt. Oder hat diese:r bloß angehalten und ist hinzugestoßen, weil es keinen Ausweg gab? Die Straßen sind jedenfalls durch plötzlich aufpoppende Absperrungen gekennzeichnet, sie machen augenscheinlich, dass sich hier in wahrsten Sinnen des Wortes etwas abspielt, aber erst dann, wenn es quasi bereits zu spät ist. Männer in superknappen Hotpants erheben sich im Zuge der Eröffnungsfeier und laden mit ihren Pompons wedelnd zu ihrem Tanz ein. Fearleaders Vienna nennt sich die Gruppe, die programmatisch durch ihren Auftritt den Diversitätsgedanken des ganzen Festivals auf den Punkt bringt. Ihre engen Hosen und femininen Outfits suggerieren die Zurschaustellung von Fleisch, nur umgekehrt als es meist der Fall ist. Hier sind es eben Männer, die sich suggestiv als Objekte der Begierde inszenieren: Werden Cheerleaderinnen durch ihre kurzen Röcke und Tänze oft mit Sexualisierung in Verbindung gebracht und objektisiert – was die Hierarchisierung im Sport nur noch weiter forciert – durchbricht die Wiener Performancegruppe diese Vorstellung. Sie führt sie in mehrerlei Hinsicht ad absurdum, weil die Gruppe nahezu ausschließlich aus männlichen Cheerleadern besteht, auch weil ihre Tanzeinlagen Erwartungen zwar bedient, aber lediglich, um sie im gleichen Atemzug der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Cheerleader-Performance unterwandert stereotype Geschlechterzuschreibungen. Immer wieder sind männliche Gebaren wie die geballte Faust oder der angespannte Bizeps in der Performance zu sehen, aber nur, um sie ironisch bloßstellen. Die Genderfluidität wird hingegen zelebriert, sie fordert den strukturellen Sexismus heraus.
Aufsehenerregend war auch die zweite Eröffnung in Boden mit dem Bad Ischler Künstler und Wissenschaftler Peter Brandlmayr – sowohl Bschlabs als auch Boden feiern jeweils eine Eröffnungsfeier des Festivals – der als GespÜnst mit Satellitenhut und aufblasbaren Anzug durch den Ort marschierte. Clownesk mutete dieses närrische Spiel mit der Wissenschaft an, das aber auf klugem theoretischem Fundament gebaut ist: der sogenannten hantologisch pataphysikalischen Erkenntnistheorie. Dabei geht es in Grunde um die Lehre imaginärer Wirklichkeit, sprich um die Vorstellungskraft, die eigentlich Basis aller Gedanken und Erkenntnisse bildet: „Die Paraphysik ist die Wissenschaft aller Wissenschaften. Ohne sie gäbe es keine Ideen, keine Neugierde, keine Illusionen, keine Forschungen, keine Experimente, keine Erfindungen. Die Pataphysik ist die Wissenschaft aller Wissenschaften“, so ein Zitat des Schriftstellers Klaus Ferentschik.

Dass medienfrische aneckt und seinem Publikum auch keine leichte Kost servieren möchte, liegt dem Programm zugrunde. Das progressive Festival mit Fokus auf Neue Medien hat sich nicht zufällig im Hochgebirge niedergelassen: In der Abgeschiedenheit einer 90 Seelen Gemeinde inmitten der Tiroler Alpen und doch nur knapp mehr als eine Autostunde von Innsbruck entfernt, ließ sich der Kulturschaffende Daniel Dlouhy nämlich auf einen Versuch ein. Getragen von der gewagten Idee, mit Erwartungen zu brechen und ein Festival experimenteller Kunst dorthin zu bringen, wo Kulturprogramme nicht Usus und Kulturinstitutionen sowieso rar gesät sind, will medienfrische etwas bewegen und aufwühlen. Wohlgemerkt birgt dieser Hintergrund etwas Aufmüpfiges, vielleicht sogar Naives in sich, doch die Idee des Widerbelebungsmomentes eines schlafenden Tales, gepaart mit dem Kooperationsgedanken zwischen lokaler Bevölkerung und Künstler:innenschaft, ist es, die Festival wie auch dem Tal die ihm innewohnende Frische verleiht. Dazu sei gesagt, dass sich das Bschlabertal aufgrund mehrerer Faktoren gut für die Umsetzung eines solchen Festivals eignet: „Zum einen haben die Örtlichkeiten sehr viel Leerstände, die benutzt werden dürfen sowie genügend Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dass die Gemeinde am Zahn der Zeit mitspielen will und sich gar nicht so rückständig gibt, zeigt die Tatsache, dass hier Glasfaser-Internet verlegt wurde. Vor allem aber waren die hier lebenden Menschen offen der Idee gegenüber“, erklärt Dlouhy in einem persönlichen Interview.
Nicht nur für die eingeladenen nationalen und internationalen Künstler:innen, die mitunter als „Artists in Residence“ oft über Wochen in Bschlabertal bleiben, erweist sich das Festival als ertragreich. Gerade die Auswahl des Ortes suggeriert ja bereits, dass es sich mit Blick auf die lokale Bevölkerung aufzieht und dieser einen Mehrwert angedeihen lassen möchte. Workshops, Performances, Konzerte sowie Arbeiten im öffentlichen Raum stehen am Plan, sind aber nur ein Teil des sich rund um den Prozess des (gemeinsamen) Arbeitens aufbauschenden Festivals:
„Es ist schon geplant, medienfrische längerfristig an dem Ort zu verankern. Das Festival lebt erst durch die gegenseitigen Diskurse auf, wobei es in jeder Austragung auch darum geht, dem Bschlabertal und ihren Dorfbewohner:innen etwas Beständiges zu hinterlassen. Ein großes Bedürfnis der Bschlabertaler, die Errichtung eines eigenen Kinos, konnte im Zuge des Festivals durch die Umfunktionierung einer Räumlichkeit zu einem Pop-Up Kinos in Bschlabs bereits verwirklicht werden. Wir wollen, dass im Dorf etwas passiert. medienfrische soll Menschen direkt konfrontieren und zum Mitdenken und Mithandeln anregen“,
so Dlouhy, der durchaus überrascht ist, wie interessiert die Menschen hierzulande auf experimentelle Kunst reagieren. Auch wenn einzelne Veranstaltungen in Form von Filmvorführungen von Werken wie „Alpenland“ „Etwas Paradies“ oder „Drii Winter“ oder Lesungen aus Büchern wie Prossers Dorfroman „Verwinden von Lawinen“ durchaus auf den Ort abgestimmt scheinen, zieht sich der Hang zum Experimentellen, zur Neuerkundung unbekannter Formate, Bereiche und Kunstformen im Programm durch. Dazu sei ein Exempel zur Veranschaulichung erwähnt: Gegen Ende des diesjährigen Festivals montierte der Medienkünstler Mohar Kalra mehrere Spiegel auf eine hügelige Erhebung, wobei die Lichtreflexionen direkt auf den Ort strahlen sollen. Der Künstler war in gewisser Hinsicht präsent, wurde bei seinen Wanderungen angetroffen und die Menschen vor Ort waren neugierig, mehr über sein Vorhaben zu erfahren. Austauschmomente ergaben sich. Kalras Beispiel ist nur eines unter vielen, das zeigt, wie medienfrische tickt und wie eng es Ort, Publikum und Künstler:in aneinanderschweißt. medienfrische ist daher nicht alleine Kunstgenuss, geschweige denn museal, sondern fordert sein Publikum heraus:
„Wir wollen der Bevölkerung dieses Seitentales nicht etwas Fertiges vorlegen, sondern in Prozesse miteinbinden. Es geht um Dialoge auf Augenhöhe, die sich sowohl für die Kunstschaffenden als auch für die Einwohner:innen als ertragreich erweisen und neue Dinge ankurbeln sollen“,
erklärt Dlouhy. Viele Vorhaben der Künstler:innen entstehen demzufolge erst vor Ort, erfahren durch kooperative Zusammenarbeit ganz neue Wendungen oder bekommen durch zufällige Begegnungen neue Perspektiven auferlegt. Besonders in diesem Jahr verwob sich die ländlich geprägte Architektur und Landschaft in vielerlei Projekten mit der neuen Technologie und zeigte auf diese Weise, wie sich Innovation und Provinzialität befruchten können.

Erwähnenswert ist ein Projekt des Game-Developers Jan Löhr mit dem Titel Distorting the World, der die Kirche zum Heiligen Joseph in Boden ausgemessen hat, um die Architektur als 3-D Modell in einer App spielerisch mit Effekten wie aus dem Fundament wachsenden, beweglichen Blumenranken oder baulichen Verzerrungen auszustatten. Das Vorhaben entstand übrigens kooperativ mit einem Pixelgrafiker und einem Audiokünstler und erhält derzeit seinen Feinschliff, ehe es im App-Store abrufbar sein soll – auf das Stichwort „bleibend“ sei demzufolge hingewiesen. Wie technologische Innovation die gesellschaftliche Kommunikation und Interaktion in der vernetzten Welt beeinflusst, beschäftigte dann den französischen Medienkünstler Louis Frehring, der diesen theoretischen Themenkomplex auf Augenhöhe mit dem Publikum künstlerisch vermitteln wollte: „Technologie versteckt sich oft hinter „Black boxes“, ich möchte diese öffnen. Meine Werke sollen Technologie verständlich für jedermann und jederfrau aufbereiten, sodass man sich etwas Konkretes darunter vorstellen kann, sie greifbar werden.“, so Frehring in einem persönlichen Gespräch mit komplex.
Einige der künstlerischen Projekte des Festivals zielen dann auf Provokation ab und bringen noch nicht Dagewesenes, vielleicht sogar Undenkbares oder Skandalöses mit einer Portion Humor in das abseitige Tal. In Widum in Bschlabs hat man beispielsweise für einige Tage nicht ohne Augenzwinkern eine Fälscherstube errichtet. Sie haben richtig gehört: Besucher:innen konnten bedenkenlos kriminellen Machenschaften hingeben. Ein gewöhnliches Büro bot Unterschlupf für diese vom Künstler Georg Eckmayr initiierte Untergrundszenerie, die im Kunstkontext alle Illegalität abgestreift und zur interaktiven Ausstellung wird. Das Prinzip hinter „untitled me. AI Fälscherstube“ ist komplex, aber in seinen Grundzügen rasch erklärt: Ein trainierter Computer soll Interessierten neue Identität schaffen, indem er mittels KI-Technologie persönliche Dokumente als Blaupausen verwendet, auswertet und mit Daten aus dem offenen Internet vergleicht. Das Gerät bastelt dann auf Basis dieser Auswertungen eine neue Identität zusammen, die der eigenen zwar gleicht, jedoch aus künstlich gelernten Codes besteht. Die vom Computer ausgespuckten Dokumente erregen Aufsehen, gerade weil sie individuell wie undefiniert zugleich sind: Sie bestehen aus Nachweisen in Form von Reisepässen, ferner aber auch aus Ultraschallbildern und zutiefst persönlich anmutenden Aufnahmen intimer Familien- und Urlaubsfotos wie „Me and my son“ oder „Our holidays“, die der Computer ausgespuckt hat. Diese konnten im Zuge des Festivals in einer Ausstellung nicht nur bestaunt werden, man konnte sich auch selbst als Testperson zur Verfügung stellen, den Prozess beobachten und mitgestalten. Manche der Fotos und Unterlagen gleichen dem Verhalten des gerade erforschten Versuchskaninchens, doch sind sie nie ident, weil sie nur einen Bruchteil des Selbst abbilden. Eckmayr zeigt, wie ein Hybrid aus Mensch und Maschine in der heutigen Zeit zu schaffen ist, untergründig aber auch, welche Gefahren sich dahinter verbergen.
Geradezu eine Gegenposition zu den technikbetonten Arbeiten bildet Anna Theresa Pöll, die im Bschlabertal Kopien von sich in die Landschaft hineingefressenen Formen und Reliefs mithilfe von Ton und Wachs anfertigte: „Die Materialität ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit, wie sie auch immer Fragen zur Vergänglichkeit in sich trägt. In diesem Zusammenhang interessierten mich insbesondere die Geschichten hinter diesen Formen. Was haben sie zu sagen und zu erzählen?“, so die Wiener Künstlerin. Nicht unweit davon entfernt verorten sich auch die Makrofotografien des kreisverkehr kollektiv, bestehend aus Lea Gander und Matthias Sanoll. Auch ihnen ging es darum, Strukturen der Landschaft zu durchforsten, die omnipräsent sind, sich der Wahrnehmung des Menschen jedoch verschließen: „Unsere Augen schaffen es nicht, in jedes Loch oder jede noch so kleine Erhebung rein zu zoomen. Wir sehen beispielsweise nicht, was in einer Baumrinde oder einem Blatt verborgen liegt. Im Fotoprojekt geht es uns auch um eine ganz andere Realität des Sehens“ so Gander, die weiter fortführt: „Mit der Technik geht das, sie ermöglicht uns, neue Welten zu erklimmen.“ Ist das nicht ein Schlussatz, der geradezu auf das Konzept von medienfrische übertragen werden kann?
| Florian Gucher
