Von Krampus zu Yin und Yang: Fotografische Expedition ins Unheimliche mit KURT TONG

Vor einem Monat haben wieder die Premierentage in Innsbruck stattgefunden – ein jährlicher Pflichttermin im Kulturkalender. Sei es, um bekannte Gesichter zu sehen oder neue Leute kennenzulernen, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und Orte zu betreten, in denen man vielleicht noch nie gewesen ist oder eben, und vor allem Kunst in ihren unterschiedlichsten Formen zu erleben. Die Premierentage sind immer intensive Tage, die auf mehreren Ebenen bereichern. Wir vom komplex waren auch wieder dabei und haben uns den ein oder anderen Programmpunkt angesehen.

Eine Veranstaltung zog bereits im Vorfeld unsere Aufmerksamkeit auf sich: Krampus im INN SITU Forum der BTV. Nicht nur, weil eine Krampus-Ausstellung im zeitgenössischen Kunstkontext eher ungewöhnlich scheint, sondern auch, weil der Künstler aus einem ganz anderen kulturellen Milieu stammt: Kurt Tong ist ein chinesischer Fotograf aus Hong Kong. Wir waren neugierig, wie er auf das uns in Tirol überall bekannte Phänomen blickt. 

Führung durch die INN SITU Ausstellung im Rahmen der Premierentage | Foto: Dino Bossnini

Eine Plattform für die Außenperspektive 

Das INN SITU im BTV Stadtforum hat sich in den letzten Jahren als Raum etabliert, der internationale künstlerische Positionen, mit einem Fokus auf Fotografie, in den lokalen Kontext von Innsbruck bringt. Ziel ist es, neue Perspektiven zu eröffnen und den Dialog zwischen scheinbar gegensätzlichen kulturellen Welten zu fördern. „Wir möchten Künstler:innen einladen, die von außen auf unsere Region und unsere Traditionen blicken“, erklärt Kurator Hans-Joachim Gögl, der die Reihe entwickelt hat. „Es geht darum, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lokalen zu ermöglichen – und das funktioniert oft besonders gut, wenn jemand Fremdes kommt.“ INN SITU lädt Fotograf:innen zu einer Residency nach Innsbruck ein, die sich vor Ort mit einem für die Region spezifischen Thema beschäftigen und während ihres Aufenthalts ein eigenes Projekt entwickeln. 

Mit Kurt Tong wurde ein Fotograf nach Tirol gebracht, dessen Arbeiten sich häufig mit Folklore, Totenkulten und Ritualen auseinandersetzen. In seinem Werk verknüpft er Fiktion und Dokumentation, wie es auch bei der Krampus-Ausstellung (die noch bis 18. Jänner 2025 zu sehen ist) zur Geltung kommt, bei der er fotografische Arbeiten mit recherchiertem regionalem Fotomaterial und anderen Funden wie Postkarten kombinierte. 

Kurt Tong in der INN SITU Ausstellung | Foto: Andreas Moser

„Krampus und Nikolaus – ein alpines Yin und Yang

Was wie ein extremer kultureller Clash klingt, macht Sinn, wenn man ein bisschen länger darüber nachdenkt. Es ist ein dialektischer Aspekt von Gut und Böse, der im Nikolaus-Krampus-Brauch zum Ausdruck kommt und in diesem Sinne auch an das taoistische Prinzip von Yin und Yang anknüpft, das wiederum die Kultur des chinesischen Künstlers prägt. 

Als Kurt Tong zum ersten Mal einem Krampus begegnete, befand er sich nicht in den Alpen, sondern in seinem Studio in Hongkong. Der Fotograf war gleich von den maskierten Gestalten fasziniert, die für ihn eine ganz fremde und unvorstellbare Welt eröffneten: 

„Meine früheren Arbeiten beschäftigen sich mit chinesischer Folklore, Aberglauben und ähnlichen Themen. Als ich mich auf Innsbruck vorbereitete, recherchierte ich online über lokale Bräuche in Tirol und stieß auf den Krampus – so begann das Projekt. Anfangs dachte ich, es wäre einfach, weil die Figur des Krampus so spektakulär ist. Aber dann wurde mir klar: Die Menschen hier wissen schon alles über den Krampus. Wenn ich nur Fotos von ihm mache, würde das niemanden beeindrucken. Also musste ich einen anderen Weg einschlagen.“

Foto: Kurt Tong

Tongs fotografischer Zugang zur Figur des Krampus basiert auf dem Konzept dieser Balance von Gegensätzen. „Mir gefiel die Idee, Licht in die Dunkelheit zu bringen – das ist für mich die Essenz von Yin und Yang“, sagt der Künstler, der seine Ausstellung in zwei räumlich getrennten Sphären von Hell und Dunkel präsentiert. Er meint damit aber auch die Tatsache, dass er als Außenstehender eingeladen wurde, ein Thema zu beleuchten, das vor Ort jedem klar zu scheinen mag, dann allerdings doch hinterfragbar wird. „Ich wollte die Tradition nicht kritisch kommentieren, wie manche vielleicht von mir erwartet hätten. Ich bin Künstler, kein Journalist. Wenn meine Kunst andere zum Nachdenken anregt, dann hat sie ihren Zweck schon erfüllt“, so Tong, dem es wichtig war, mit seinem vielleicht kontrovers anmutenden Projekt keine belehrende Position einzunehmen.

Das Unheimliche – oder die Abwesenheit des Unheimlichen

Ein zentrales Element der Ausstellung ist die Abwesenheit des Krampus selbst. Stattdessen erzeugt Tong eine Atmosphäre, die ihn durch Spuren und Erinnerungen imaginär greifbar macht – etwa auch durch Gerüche von Kohle, nassem Fell und Ziegenschweiß oder durch den Klang von Glocken, der aus einer Ecke ertönt. „Wie in den guten Horrorfilmen, in denen das Monster nur angedeutet wird, baut sich hier die Spannung im Kopf der Betrachter:innen auf“, kommentiert der Horrorfilmexperte Michael Fuchs, der am 20. November gemeinsam mit dem Kurator Hans-Joachim Gögl durch die Ausstellung führte. 

„Das Unheimliche, wie es auch Sigmund Freud in seinem gleichnamigen Aufsatz schreibt, wird produziert, indem das uns bereits Bekannte verfremdet wird – es besteht ein Konflikt von bekannt und unbekannt, wobei sich das Unbekannte oft gar nicht definieren lässt“, 

führt Fuchs fort und zeigt auf ein altes Foto, das Tong auf einem Flohmarkt gefunden und in seine Ausstellung integriert hat. Auf dem Bild ist eine Familie vor dem Weihnachtsbaum abgelichtet: „Es vermittelt eine ganz seltsame Stimmung, etwas stimmt hier nicht, aber man kann gar nicht genau sagen, was es ist“. Ähnlich verhält es sich mit portraitartigen Fotografien von Krampus-Masken, die Tong nicht von außen, sondern von innen fotografierte, und die aus dieser ungewöhnlichen Perspektive fast noch unheimlicher oder verstörender erscheinen als die von uns bereits gewohnten Ansichten auf die Schreckensgestalten. 


Das Thema des Unheimlichen, das Uncanny, wie man es in der Horrorfilmsprache bezeichnet, zieht sich durch die gesamte Ausstellung. Tong hat bewusst Elemente aus Horrorfilmen und Horror-Videospielen mit der Krampus-Tradition vermischt, weil die Figur für ihn als Außenstehender einen klaren Gruselbezug zu Gestalten in Horrorfilmen hat. Fuchs verweist auf die Verbreitung des Krampus-Motivs in der internationalen Horrorfilmindustrie, insbesondere in den USA. Die meisten Krampus-Horrorfilme seien dort zwischen 2013 bis 2018 produziert worden, auch Kurt Tong hat sich alle im Zuge seiner Recherche angesehen: „Ich fand sie alle schrecklich. Die meisten von ihnen sind Low-Budget-Filme, die wirklich schlecht sind“, dennoch war es die Erfahrung wert: „Ich wollte ein Gespür dafür bekommen, wie Leute aus einer anderen Kultur den Krampus wahrnehmen“. 

Abgelichteter Krampus-Horrorfilm | Foto: Kurt Tong

Fuchs verweist in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Beispiel für den globalen Kulturtransfer: „Fast alle US-amerikanischen Krampus-Horrorfilme sind kurz nach dem Gastauftritt von Christoph Waltz bei der Tonight Show mit Jimmy Fallon entstanden, in der Waltz dem Amerikaner von der Krampus-Tradition in den Alpen erzählt“ – eine für das US-amerikanische Publikum unglaubliche Geschichte, die gleich als Filmstoff weiterverwertet wurde. Allerdings erscheine der Krampus in diesen Filmen meist nicht wie bei uns am 5. oder 6. Dezember, sondern direkt zu Weihnachten, da die Nikolaus-Tradition dort nicht bekannt ist. Umgekehrt lässt sich wiederum beobachten, dass die modernen Krampus-Masken in Tirol immer häufiger an Fantasy- oder Horrorfilmgestalten erinnern. „Viele schauen mittlerweile aus wie die Orks in Herr der Ringe und haben nichts mehr mit den ursprünglichen Krampus-Masken zu tun“, beobachtet Fuchs und verweist darauf, wie die Hollywood-Ästhetik wiederum in die regionale alpenländische Tradition einfließt, die immer mehr zu einer kommerziellen Horror-Show mit organisiertem Event-Charakter mutiert.

Im Dialog mit der Kunst – auf mehreren Sinnen 

Zurück zum INN SITU Vermittlungsformat „Foto-Sound“, das im Rahmen der Premierentage stattgefunden hat: Eine besondere Bereicherung zur Ausstellung bot die Live-Improvisation der Kontrabassistin Anna Reisigl, die sich musikalisch auf die fotografischen Arbeiten von Kurt Tong einließ und dabei das Unheimliche auf einer klanglichen Ebene erlebbar machte. Für Reisigl ist die Improvisation eng mit Emotionen verknüpft: 

„Improvisation hat immer etwas mit der eigenen Stimmung zu tun, weil sie davon abhängt, wie es dir an dem Tag geht, wie du dich fühlst, was dich beschäftigt. Zu den ausdrucksstarken Bildern von Kurt Tong zu spielen ist mir leicht gefallen, weil diese sofort ein Gefühl in mir ausgelöst haben – sei es die Düsternis des Waldes oder die Kälte und Leere im Schnee.“

Schneelandschaft mit menschlichen Spuren | Foto: Kurt Tong

Um die unheimliche Atmosphäre akustisch spürbar zu machen, griff Anna Reisigl auf spezielle Spieltechniken zurück:

„Ich habe am Bass unter anderem das Bartók-Pizzicato verwendet, bei dem die Saite gegen das Griffbrett geschlagen wird, um einen harschen Klang zu erzeugen. Auch der Kontrabass selbst hat eine wichtige Rolle gespielt: Sein tiefer, dunkler Klang und die Tatsache, dass er aus Holz besteht, haben für mich perfekt zum Thema gepasst, weil das Material auch etwas Erdiges und Düsteres an sich hat.“ 

Anna Reisigl improvisiert live zu den Bildern von Kurt Tong | Foto: Dino Bossnini

Die Ausstellung „Krampus“ und deren dialogisches Vermittlungsprogramm veranschaulichen exemplarisch die Idee der Premierentage, bei denen es nicht zuletzt auch darum geht, sich durch Kunst und durch Gespräche über Kunst tiefgründig auf neue oder bereits bekannte Themen einzulassen, Perspektiven darauf zu verändern und das Denken in andere Richtungen zu lenken. Wir freuen uns schon auf die nächste Edition und sind gespannt, wohin uns die Wege führen. 

| Brigitte Egger


bios

Kurt Tong

studierte am London College of Communication. Sein Buch »Combing for Ice and Jade« gehörte für Time, El País und Esquire zu den besten Fotobüchern des Jahres 2019. Er ist Träger des Prix Elysée 2021, einer der höchstdotierten Auszeichnungen für Fotografie in Europa. Seine Arbeit im Rahmen der Reihe INN SITU ist die erste Einzelausstellung des Künstlers im deutschsprachigen Raum. Kurt Tong lebt und arbeitet in Hongkong.

@kurttong77

Michael Fuchs 

ist ein Experte für das Medienphänomen Krampus. Er promovierte über den Horrorfilm an der Universität Graz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Amerikastudien der Universität Innsbruck.

Anna Reisigl 

studierte Bass in Innsbruck, Linz und Wien bei Lehrenden wie Robert Riegler, Helmut Schönleitner, Walter Rumer und Ulrich Langthaler. Sie ist Mitbegründerin des Jazztrios Drehwerk, konzertiert mit ihrem Soloprojekt AR Project sowie in Formationen wie The Flipside Collective, dem Tom Joseph Trio oder dem Pia Denz Oktett. Zusammenarbeiten u. a. mit Yvonne Moriel, Andreas Tausch oder Yasmin Hafedh u. v. m. Sie ist Trägerin des Tiroler Nachwuchs-Jazzpreises sowie des Joe Zawinul Preises.

@anna_reisigl

Hans-Joachim Gögl

Hans-Joachim Gögl ist Formatautor an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Gemeinsam mit dem Berliner Konzertdesigner Folkert Uhde ist er Künstlerischer Leiter der »Montforter Zwischentöne« in Feldkirch/Vorarlberg. Seit 2018 kuratiert er die von ihm konzipierte Reihe »INN SITU – Fotografie, Musik, Dialog« im BTV Stadtforum Innsbruck. Er ist Mitbegründer und Programmleiter der »Tage der Utopie«, die biennal in Vorarlberg stattfinden. Hans-Joachim Gögl ist Autor zahlreicher Publikationen und Träger des österreichischen Staatspreises für Bildung und Innovation.

@hans_joachim_goegl / goegl.com

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