Widerständigkeit erforschen: im gemeinsamen Sticken und Geschichtenerzählen – mit JOHANNES REISIGL und JURI VELT

Von 26. bis 29. Oktober 2023 bespielten  Johannes Reisigl und Juri Velt den openspace.innsbruck mit ihrem Radioprogramm „Roaming Rumors of Resistance“ im Rahmen von Magic Carpets – European Platform Project. Wir haben die schöne Einladung wahrgenommen und uns gemeinsam mit den beiden Künstler:innen in widerständigen Praktiken – vom gemeinsamen Besticken eines großflächigen Textils bis zum Zuhören und Erzählen von Geschichten – geübt. 

Die beiden Tiroler Künstler:innen hat es vor ein paar Jahren, unabhängig voneinander, nach Amsterdam gezogen. Immer wieder treffen sie sich dort zum gemeinsamen Zeitvertreib, um über Dinge zu reden, die sie beide bewegen. „Da ist so viel Gemeinsames: Dinge, die wir gern haben, die uns ärgern, die eine gewisse Dringlichkeit auslösen oder uns inspirieren“, sind sie sich einig. Bereits seit über zehn Jahren gehen die beiden, trotz zum Teil längerer räumlicher Separierung, gemeinsame Wege. Ihr aktuelles, partizipatives und kollaboratives Radio-Forschungsprojekt „Roaming Rumors of Resistance“ ist diesem gemeinsamen Austausch entwachsen. Im Gespräch mit komplex erzählen sie über ihre Beweggründe, ihre Methoden und Zugänge. 

Johannes Reisigl und Juri Velt | Bild: Danijela Oberhofer Tonkovic

Johannes und Juri, was hat euch zusammengebracht und was ist es, das euch gemeinsam antreibt? 

Juri: Wir kennen uns schon lange, aber angefangen hat unsere Zusammenarbeit durch eine Einladung, die ich Johannes 2022 in Amsterdam überreicht habe. Es war eine Visitenkarte, auf der stand: „Einladung zum Gespräch, um über Heimat(sgefühle) und (Un)Gemütliches zu sprechen”. Es war eine Einladung, um Formen von Widerständigkeit im ländlichen Raum zu erforschen, die ich damals vor allem in Tirol, aber auch mit befreundeten Personen teilte… Johannes meinte damals, ihn würden diese Themen gerade auch sehr beschäftigen. 

“Widerstand” kommt auch im Titel eures Projekts “Roaming Rumors of Resistance” vor  – Widerstand wogegen?

Johannes: Uns geht es darum, unser Verständnis von Widerständigkeit zu queeren und zu erweitern. Wir fragen uns, wie mensch Widerständigkeit über das Bild hinausdenken kann, das uns als erstes in den Sinn kommt (etwa Straßenproteste), und wo mensch Widerständigkeit vielleicht auch anders verorten kann. Dabei erforschen wir verschiedene Strategien, Theorien und Praktiken. 

Juri: Zum Beispiel in der Art und Weise, wie mensch arbeitet. Eine bekannte Person von uns repariert zum Beispiel liebgewonnene Kleidung im Austausch mit deren Besitzer:innen– das sehen wir als Form von widerständiger Praxis.

Johannes: …oder auch Langsamkeit als eine Form von Widerstand. Weil wir in einer Welt  neoliberaler Dogmen leben, in welcher Produktivität, Effizienz und Hyperindividualismus den Ton angeben. Die Autorin Tricia Hersey hat da ein inspirierendes Buch geschrieben: „Rest Is Resistance“, in dem sie Produktivitätsverweigerung als eine Form von Protest beschreibt und Wege aufzeigt, wie wir individuell und gemeinschaftlich zu einer anderen Art der Verkörperung gelangen können.

Mit welcher Methode geht ihr euer kollaboratives, künstlerisches Forschungsprojekt an?  

Juri: Wir nehmen das Radio als Medium her, durch welches wir Arten von Widerständigkeit und deren verschiedene Definitionen erforschen. Für dieses Medium haben wir uns entschieden, weil wir ständig Dinge miteinander geteilt haben, die uns bewegen, interessieren oder inspirieren. Wir haben beide einen großen Pool an Referenzen und oft beschäftigen wir uns mit ähnlichen Themen, aber aus unterschiedlichen Perspektiven — auch geprägt von den verschiedenen Orten, an denen wir unabhängig voneinander gelebt haben. Wir haben uns gefragt, was es für ein Format geben könnte, um dieses Teilen zu aktivieren.

Das Interessante am Radio ist schließlich auch, dass es einen virtuellen Raum aufmacht und zugleich auch in einem physischen Raum passiert.

Radioprogramm im openspace | Bild: Danijela Oberhofer Tonkovic

Johannes: Radio eignet sich als Medium, um verschiedene Wesen, Orte und Praktiken zu verbinden. Und weil wir ja selbst schon verschiedene Orte, Referenzen und Verbindungen zu unterschiedlichen Leuten und Wesen mitbringen, die gewisse Dinge tun, schien uns das Radio dafür gut geeignet – wie eine Art Schirm – viel davon zu verbinden, was uns ausmacht. 

Ihr sendet über Radio Robida – was ist das für ein Radio und warum genau dieses?

Johannes: Wir machen ein Radioprogramm, das sich nomadisch von Ort zu Ort bewegt und im Zuge dessen mit unterschiedlichen Radiosendern kollaboriert ist. Wir hängen uns also an bestehende Stationen an – je nachdem, wo wir uns gerade verorten. Diesmal haben wir uns entschieden, über ein Community Radio von Freund:innen in einem italienischen Dorf zu senden. In Zukunft werden wir auch mit anderen Radiostationen zusammenarbeiten.

Im openspace werden nicht nur Texte für das Radio vorgelesen, sondern auch gemeinsam gestickt und gesprochen – was verbindet diese Praktiken? 

Johannes: Im Rahmen unseres ersten Broadcastings setzen wir uns mit Fragen von Narrativen und des Erzählens auseinander: Welche Geschichten erzählen wir, mit welchen Geschichten werden wir sozialisiert, welche Geschichten braucht es vielleicht noch, und wie kann mensch diese erzählen…?  Radio ist immer bis zu einem gewissen Grad ein Geschichtenerzählen und eine programmatische Arbeit. 

Juri: Beim gemeinsamen Sticken geht es viel darum, dass wir die Texte, die wir vorlesen auch mit den Händen verdauen. Leute, die zuhören, können so auch direkt auf das Gehörte reagieren und das während dem Sticken verarbeiten. 

Johannes: Das Sticken sehen wir auch als eine Strategie, in der es um Langsamkeit geht, um Achtsamkeit, um das Zuhören und um das Hinterlassen von Spuren, die uns in der zukünftigen Anwendung des Textils in anderen Kontexten begleiten werden…

Sticken im openspace | Bild: Danijela Oberhofer Tonkovic

Wir haben ja bereits gemeinsam am Kunstraum Summerschool-KursCommon Landscape  on Community, Co-creation, Visual and Oral Storytelling, Drawing and Linocut“ von Yuriy Kruchak & Yulia Kostereva (Open Place) teilgenommen. Wie steht euer Projekt in Bezug dazu? 

Johannes und Juri: Die künstlerische Praxis von Open Place ist ähnlich partizipativ und prozessorientiert. Im Vordergrund stehen der Austausch und das gemeinsame Lernen. Auch in der Wahl der Materialien stehen wir Yuriy und Yulia nahe – so haben auch sie mit Gesprächen und Textilien gearbeitet. 

[Während des Interviews kommt Kuratorin Danijela Oberhofer Tonkovic in den Raum und legt Stickgarne in unterschiedlichen Farben – gelb, rotbraun, silber, schwarz, grün – auf den Tisch, die sie eben für das Projekt besorgte]. Die Farben schauen nicht zufällig gewählt aus, was bedeuten sie?

Juri: Wir haben uns dabei an den Farben des Raumes orientiert. Da unser Projekt nomadisch ist, wird das Textil uns noch an andere Orte begleiten. Jetzt ist es eine Tischdecke, es kann aber auch Raumteiler, Wandteppich, oder Vorhang sein, je nachdem, wo wir uns befinden. Wir besticken das Textil also mit den Farben dieses physischen Raumes: mit dem Gelb der Tischplatten, dem Silber der Lampenkonstruktion, dem Rotbraun der Musikboxen, dem Grün der Tischoberfläche und so weiter. Das Textil wird gemeinsam mit allen Partizipierenden gestaltet. Und wenn wir dann mal mit dem Radio woanders hingehen, werden wir schauen, welche Farben es dort gibt, und wie wir an diesem anderen Ort mit dem Textil umgehen.

Materialien | Bild: komplex

Für euer Radioprogramm habt ihr kurze Textausschnitte von sechs Autor:innen ausgewählt – nach welchen Kriterien habt ihr euch für diese Texte entschieden? 

Juri: Es sind hauptsächlich Texte, die uns beide schon längere Zeit begleiten, und die wir gerne lesen und teilen wollten! Wir haben versucht, bei der Auswahl Themen und Autor:innen zusammenzubringen, die in Bezug auf die Frage, welche Geschichten wir erzählen wollen, diese von unterschiedlichen Standpunkten aus beleuchten. Wir fragten uns: Welche Geschichten werden durch unsere Worte und Handlungen erzählt? Welche (anderen) Geschichten werden gebraucht? Und wie können wir diese anderen Geschichten erzählen? Diese gelesenen Texte sind dann eine Art Grundlage und Archiv für die weitere Arbeit am Radio. 

Johannes: Bei der Auswahl der Texte waren uns Diversität und Zugänglichkeit wichtig. Inhaltlich beschäftigen sich die Texte alle mit Fragen nach dem Geschichtenerzählen: 

Etwa mit den klassischen Schöpfungsgeschichten, wie uns  prägen und die Art und Weise, wie wir uns zur Welt verhalten prägen; mit den Ideen von Apokalypse und Dystopie, die wir als weiße Menschen gerade dabei sind zu begreifen, Menschen an anderen Orten allerdings schon lange begleiten (Stichwort Kolonialismus); auch das eigene Verständnis darüber, in welcher Geschichte befinde ich mich gerade und wessen Geschichte ist es eigentlich; oder, wie können wir in Zeiten von Informationsflut und Überforderung durch die ganzen Krisen einen Zugang zum künstlerischen Schaffen finden; thematisiert wird auch die Vorstellungskraft, die man kultivieren kann. 

Die Texte sind sehr divers, reichen von Einzelpersonen bis hin zum Kollektiv, von Autor:innen aus Österreich genauso wie indigene Autor:innen deren Stimmen bisher noch selten gehört wurden, von Leuten unterschiedlicher Altersklassen, Gender etc. und wurden in den Sprachen deutsch und englisch vorgetragen.  

Büchertisch | Bild: komplex

Am letzten Projekttag steht der Punkt „Feral Budget“ im Programm. Was wird da präsentiert und wie hängt es mit dem Radio-Projekt zusammen? 

Johannes: Das Projekt besteht aus drei Tagen des gemeinsamen Arbeitens und einem vierten Tag des gemeinsamen Feierns. „Feral Budget“ beruht auf das Konzept der australischen Künstlerin Kate Rich, die in der  Diverse Economies Bewegung tätig ist. Die Bewegung versucht unter dem Leitspruch “Take Back the Economy!”, unsere Vorstellung von Wirtschaft (und davon, wer Wirtschaft macht, was ein wirtschaftlicher Akt ist etc.) zu erweitern. Ein Feral Budget (eng. für “wild”) bildet nicht nur den Ein- und Ausgang von Geld ab, sondern auch von anderen zugrundeliegenden Ressourcen und Arbeiten, die verrichtet werden, damit etwas gelingen kann. In unserem Fall: dass wir hier am Ende des Tages vor dem Mikrofon sitzen und die Bücher lesen können. Es gibt noch viel mehr, das dazu beiträgt, dass wir das machen können, was wir machen, z.B. die Teilnehmer:innen im Raum, der Honig, den Danijela von Kroatien mitgebracht hat oder das große Textiltuch, das Juri mit Mama gemeinsam genäht hat. Aber auch die Tatsache, dass uns Leute Texte empfohlen haben, dass wir auf einer Herbstakademie  im Steirischen Salzkammergut waren und uns da ausgetauscht haben, dass wir oft einen Hund als dritten Weggefährten dabei haben – all das hat einen Einfluss und trägt dazu bei, dass und wie wir unser Projekt machen können – neben dem Geld natürlich, das uns erlaubt, Equipment zu kaufen, Bücher usw.

Es geht darum, Bewusstsein zu schaffen und danke zu sagen – nicht nur für das Geld und dafür, dass wir da sein dürfen, sondern auch an den Boden, der uns die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Es soll ein Akt des Feierns sein, der auch von einer gemeinsamen Playlist von Resistance-Songs begleitet wird, zu dem alle eingeladen sind, Songs mit uns zu teilen. Diese Liste darf auch weiter wachsen und wird bei Gelegenheit wieder gespielt. 

Was ist euer persönlicher Lieblings-Resistance-Song, den ihr unseren Leser:innen mitgeben wollt? 

Johannes: Diese Wahl fällt schwer, weil es genau die Vielfalt der Lieder und Themen ist, die unsere Playlist zu dem macht, was sie ist – und den Begriff von Widerständigkeit in unterschiedlichen Formen und Klängen auslotet. Als kleinen Vorgeschmack, wählen wir im Folgenden zwei Lieder aus, deren implizite Ideen von Widerständigkeit nicht unterschiedlicher sein könnten.

Johannes:  Erobique & Jacques Palminger – Wann Strahlst Du?

Juri:  I Saw – Young Fathers

| Brigitte Egger


Das war das Programm von „Roaming Rumors of Resistance“:

Thursday, 26. Oktober
3:30 p.m.: “Als ob Literatur in dieser Gegenwart einen Sinn habe” by Laura Freudenthaler, from Playbook Klimakultur (ger.)
5:30 p.m.: “Der Sturz der Himmelsfrau” by Robin Wall Kimmerer, from Geflochtenes Süßgras, Die Weisheit der Pflanzen (ger.)

Friday, 27. Oktober
3:30 p.m.: “Die Tragetaschentheorie des Erzählens” by Ursula K. Le Guin, from Am Anfang war der Beutel (ger.)
5:30 p.m.: “Three Stories” by Donna Haraway, from the Essay “Otherworldly Conversations; Terrain Topics, Local Terms”, published in The Haraway Reader (eng.)

Saturday, 28. Oktober
3:30 p.m.: “Parallel Futures: One or Many Dystopias?” by Pedro Neves Marques, from e-flux Journal, Issue #99 (2019) (eng.)
5:30 p.m.: “We Are ‘Nature’ Defending Itself – Entangling Art, Activism & Autonomous Zones” by Isabelle Fremeaux & Jay Jordan, from We Are ‚Nature‘ Defending Itself, Entangling Art, Activism and Autonomous Zones (eng.)

Sonntag, 29. Oktober
5:30 p.m.: Presentation of our Feral Budget
6:00 p.m.: Songs of Resistance

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