Sichtbar unsichtbar – über Wohnungslosigkeit in der aktuellen Performance von SARAH MILENA RENDEL

Ungefähr 20.000 Menschen wurden 2021 in Österreich als obdachlos oder wohnungslos registriert. Darüber hinaus gibt es eine unbekannte Zahl an verdeckter Wohnungslosigkeit. Eine Befragung von Betroffenen zeigt, dass die Hauptursachen für ihre Wohnungslosigkeit Probleme in Beziehungen oder familiäre Schwierigkeiten sind. Während Frauen* als Alternative am häufigsten Notunterkünfte aufsuchten, fanden sich Männer eher auf der Straße wieder. Dieser Unterschied dürfte auch auf die Gefahren zurückzuführen sein, denen Frauen*, die sich nachts alleine auf der Straße aufhalten, stärker ausgesetzt sind – Vergewaltigung ist nur ein Aspekt davon.

Insgesamt waren knapp sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung zumindest phasenweise wohnungslos, hochgerechnet wären das 300.000 bis 440.000 Menschen in Österreich – wie ist es angesichts dieser Zahlen möglich, dass Menschen immer noch sagen, in Österreich gäbe es keine wirkliche Armut und niemand müsse auf der Straße leben, wenn er nicht wolle? Wie kann es sein, dass diese Zahlen immer noch so hoch sind? Wird zu wenig dagegen unternommen – oder forciert unser kapitalistisches System Situationen wie diese sogar?

Sarah Milena Rendel versucht, mit ihrer Performance „Unsichtbar“ den Hintergründen auf die Spur zu kommen. Dafür hat sie mit einer Frau* zusammengearbeitet, die weiß, wovon sie spricht: Bianca Schatz, eine selbst von der Wohnungslosigkeit Betroffene.

Aus der Performance „Unsichtbar“| Foto: Sarah Milena Rendel

komplex: Der Text stammt von Bianca Schatz, einer Person, die die Situation der Wohnungslosigkeit nur allzu gut kennt. Wie kam es dazu? Hat der Text schon vorab existiert oder wurde er für die Performance geschrieben?

Sarah Milena Rendel: Die Performance ist Teil eines größeren Projekts, das „Unterm Dach“ heißt. Beispielsweise wird eine Kurzdoku zu Wolfgang Tschernutter gezeigt, ein vor 30 Jahren ermordeter Wohnungsloser. Für einen gegenwärtigeren Teil wollte ich eine Performance, für die eine Frau* / FLINTA*-Person die Textgrundlage schafft. Dann habe ich „lila wohnt“ angeschrieben, eine Beratungsstelle für Wohnungslose, die mir Bianca Schatz vermittelt hat. Bianca hat sich dazu bereit erklärt, die textliche Komponente für die Performance zu liefern.

Warum geschieht es so oft, dass sich wohnungslose Personen einer solchen Gewalt ausgesetzt sehen, wie es bei Wolfgang Tschernutter der Fall war?

S.: Ich glaube, dass der Kapitalismus, das Patriarchat und auch die Politik so eine Hetzte fahren gegen diese Menschen, dass Hass gegen sie geschürt wird und sie teilweise gar nicht mehr als Menschen gesehen werden – dies erleichtert Gewalt gegen diese schutzlosen Personen natürlich enorm.

Wo verortest du die Hetze konkret? Und wie spielt hier das Patriarchat mit rein?

S.: Hetze verorte ich durchaus auch medial; Begriffe wie „Sandler“ zum Beispiel waren vor 30 Jahren, als Wolfgang Tschernutter ermordet wurde, in den Medien allgegenwärtig. Das ist jetzt nicht mehr so scharf, aber der Mensch wird meiner Meinung nach immer noch als Verwertungsmaschine gesehen und an seiner Leistungsfähigkeit gemessen.

Was das Patriarchat betrifft, so tragen Männlichkeitsbilder im Sinne eines „Männer dürfen nicht scheitern“-Gedankens sicherlich zu einer aggressiven Stimmung bei, genauso Weiblichkeitsbilder und Aussagen wie „Selber Schuld, sie hätten ja in ihren (toxischen, Zwangs-) Beziehungen bleiben können, um nicht wohnungslos zu werden“.

„Die Politik müsste dringend das Leistungsprinzip hinterfragen, denn Menschen haben das Recht auf Leben, Unversehrtheit, Wohnen und Teilhabe, ohne etwas dafür leisten zu müssen.“

War es Bianca Schatz ein Anliegen, mit ihrer Situation an die Öffentlichkeit zu gehen, um eine grundlegende Problematik sichtbar zu machen oder ist es ihr eher schwergefallen, so etwas Intimes für die Öffentlichkeit zu produzieren?

S.: Bianca Schatz gibt Workshops zu Themenfeldern wie Armut, Kinderarmut sowie Wohnungslosigkeit, daher habe ich den Eindruck, es ist ihr ein großes Anliegen, andere mit ihrer eigenen Geschichte für dieses Thema zu sensibilisieren.

Aus der Performance „Unsichtbar“| Foto: Sarah Milena Rendel

Wie schwer ist es für Menschen, die selbst nie davon betroffen waren, ein realistisches und doch sensibles Bild dieser Thematik zu zeichnen? Was ist dir dabei besonders wichtig?

S.: Sehr schwer. Für mich war deswegen extrem wichtig, dass der Text von einer Person stammt, die im Gegensatz zu mir diese Lebensrealität nachempfinden kann. Ich kann den Rahmen bieten als Kulturschaffende, der Kern soll aber von der betroffenen Person kommen.

Nicht zuletzt stehen die kapitalistischen Strukturen, die solche Situationen zum Teil nicht nur zulassen, sondern sogar hervorrufen, im Zentrum der Performance. Was müsste deiner Ansicht nach daran konkret geändert werden?

S.: Realpolitisch gesehen wären sicher die Fragestellungen mal wichtig: Welche Diskurse wollen wir bedienen, wie wollen wir über Menschen reden und wie wollen wir ein gleichberechtigtes egalitäres Miteinander haben? Jede Partei könnte sich da versuchen zu sensibilisieren, denke ich. Die Politik müsste dringend das Leistungsprinzip hinterfragen, denn Menschen haben das Recht auf Leben, Unversehrtheit, Wohnen und Teilhabe, ohne etwas dafür leisten zu müssen.

Was sagst du zu Menschen, die behaupten, niemand muss in Österreich auf der Straße leben?Wie sieht es mit den Einrichtungen in Österreich aus, stehen genügend zur Verfügung?

S.: Es wird besser, aber es sind nach wie vor zu wenig. Gerade für FLINTA*-Personen gibt es zudem viele Barrieren. Und es gibt definitiv nicht für jede Lebenssituation genügend Plätze. Es müsste auch viel niederschwelliger und freier gestaltet werden, zum Beispiel wie bei dem Konzept housing first, wo Menschen viel autonomer und würdevoller wohnen und langsam in die Selbstständigkeit zurückfinden können. Es gäbe hier schon noch viel zu tun.

Bei der Performance soll die Schauspielerin Esin Eraydin die Erfahrung mit Armut und Wohnungslosigkeit der Autorin verkörpern, während Sandra Schildhauer diese persönliche Perspektive durch Analysen der kapitalistischen Strukturen erweitert, die viele Menschen an den Rand der Gesellschaft drängen. Was kann man sich darunter vorstellen?

S.: Die Performance besteht aus dokumentarischem und performativem Theater – eine Person repräsentiert eher den biografischen Part, die andere geht eher in Richtung Lecture Performance und reflektiert allgemeinere Fragen. Im Anschluss finden Gesprächsrunden mit Bianca und mir statt, außerdem stellen sich Projekte vor, zum Beispiel eine Gruppe von Hausbesetzer*innen.

Das ist ja nicht das erste Mal, dass du zum Thema Wohnungslosigkeit inszenierst. Warum ist dir dieses Thema so wichtig?

S.: Weil es so essentiell ist wie kaum etwas anderes! Und weil es auch etwas ist, das Menschen verbinden kann – sich mit diesem Thema zu beschäftigen, mit dem jede*r etwas anfangen kann, weil es alle betreffen könnte. Es muss für jede Person genügend Wohnraum existieren – das ist für mich ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt!

Sarah Caliciotti


Termine

am 13. und 14. September 2024 in der Franz-Gschnitzer-Promenade

Regie: Sarah Milena Rendel
Textgrundlage: Bianca Schatz
Peformance: Esin Eraydin und Sandra Schildhauer

Sarah Milena Rendel

Rendel (1992) ist freischaffende Theater- und Filmemacherin. Sie ist die künstlerische Leitung des Kunst- und Kulturvereins Soliarts, mit dem sie unter anderem Gastspiele im BRUX /Freies Theater, theater praesent, Westbahntheater, die Bäckerei, Bogentheater, Theater Tiefrot in Köln als auch in Wien im Ateliertheater und Lacy Life. Sie schloss das Studium der Erziehungswissenschaft 2017 und eine Ausbildung zur Theaterpädagogin 2019 ab. Sie ist tätig in Regie, Text und Produktionsleitung und macht theaterpädagogische Projekte, Theaterstücke, Performances, Dokumentarfilme, Podcasts und Kulturfestivals. Sie war mit einem Text vertreten beim STEUDLTENN Festival 2020 und 2021 und 2023 beim Tiroler Dramatikerinnenfestival. Ebenso ist sie im Vorstand vom BRUX/Freies Theater sowie Mitorganisatorin von Theater unter Sternen im Zeughaus. Ihre erste Dokumentation „WOHNEN“ feierte Premiere beim IFFI, dem Internationalen Filmfestival Innsbruck.

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