„Gemma Bögen“ – haben die meisten in Innsbruck wohl schon einmal gehört, wenn nicht selbst in den Raum geworfen, wenn zu späterer Stunde entschieden werden sollte, wo man denn das nächste Bier trinken oder noch tanzen gehen könne. Eher ungewöhnlich ist es allerdings, wenn dieser grammatikalisch nur halbkorrekte Ausdruck im Kontext einer Lehrveranstaltung an der Universität fällt. Studierende des Fachs Europäische Ethnologie haben sich in den vergangenen zwei Semestern zu Forschungszwecken ins Feld begeben und die Innsbrucker Bogenmeile multisensorisch wahrgenommen. Ausgestellt sind die Ergebnisse noch bis zum 4. November im Bogen 25. Wir waren dort und haben uns mit der studentischen Kuratorin Johanna Böhm sowie mit der Projektleiterin Oliwia Murawska über ihre persönlichen Eindrücke zu diesem erlebnisreichen Unterfangen unterhalten.
Als Oliwia Murawska zu Beginn des Sommersemesters 2020 vom Institut für Europäische Ethnologie, ihrer neuen Arbeitsstelle, die Möglichkeit erhielt, im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts mit den Studierenden die Bögen zu erforschen, war dieses Feld in den Augen der Ethnologin noch ein gänzlich unbeschriebenes Blatt: „Ich wusste zu dem Zeitpunkt ja noch gar nicht, was denn die Bögen überhaupt sein sollten, da musste ich erstmal recherchieren“, erzählt Murawska, die eben erst von Frankfurt am Main nach Innsbruck gezogen ist. Daraufhin hat sie sich mit Medienberichten über die Innsbrucker Bogenmeile auseinandergesetzt und sich auf ihren ersten Wahrnehmungsspaziergang in der Ing.-Etzel-Straße gemacht.
„Hier wurde mir dann sofort klar, warum dieser Ort aus stadtanthropologischer Perspektive interessant ist: Die Innsbrucker Viaduktbögen sind ein sehr dichter Raum mit vielen Gegensätzen und vermeintlichen Widersprüchen, an dem sich verschiedenste Facetten der Stadt abbilden. Einerseits überschneiden sich die Eindrücke mit dem Ruf, der den Bögen vorauseilt, andererseits vermitteln sie aber auch eine gewisse Gemütlichkeit“.

Angefangen hat das Unisemester im März 2020 noch kurz vor der Pandemie. Auch die Studierenden waren besonders motiviert, sich mit der Bogenmeile wissenschaftlich auseinanderzusetzen, welche die meisten von ihnen vorerst selbst nur mit dem Ausgehkontext verknüpften. Doch bereits nach dem ersten Treffen im Seminarraum zeichnete sich aus bekannten Gründen ab, dass sich das Forschungssemester ganz anders gestalten würde als geplant. Nicht nur die ethnografischen Methoden, die vom menschlichen Austausch, persönlichen Begegnungen und Interviews mit Akteur:innen leben, mussten an die neuen Umstände angepasst werden. Auch das zu untersuchende Feld veränderte sich bald, sodass sich dort ganz andere Formen der Wahrnehmung eröffneten…
„Die ersten Bögen stellen sich im Unterschied zu den schillernden Erinnerungen an die verspielten Nächte und gebliebenen Bilder von Ungewissheit, Belebtheit, Freude, Freiheit, Fülle und Erwartung ganz anders dar. Anstelle dessen tritt ein Gefühl der Kälte und Leere einer regnerischen Nacht zu Beginn des März. Der Ort ähnelt mehr einer verlassenen Stadt als einem Ort der Möglichkeiten.“
– Johannes Klocker, Wahrnehmungsbericht, März 2020
Nach der theoretischen Lektüre stadtanthropologischer und neumaterialistischer Studien u. a. von Walter Benjamin oder Jane Bennett, machten sich die Studierenden also während des Lockdowns auf zur Bogenmeile – mit dem Vorhaben, sämtliche subjektive Wahrnehmungen in einem Bericht festzuhalten, sinnliche Ethnografie zu betreiben. „Durch die Pandemie war es möglich, sich physisch auf das Forschungsfeld einzulassen, ohne dass man dabei von dem sonst in den Bögen herrschenden Trubel abgelenkt wird. Die Situation bot eine gänzlich andere Perspektive“, so Murawska, die davon überzeugt ist, dass durch den Lockdown nicht ausschließlich etwas weggefallen, sondern vor allem etwas Neues hervorgetreten ist: „Erst einmal scheint das Feld zu schweigen, aber wenn man dann genau hinsieht und hinhört, dann vernimmt man doch so einiges: Es zeigt sich darin ein ganz eigener Rhythmus, und die Materialität beginnt, zu uns zu ‚sprechen‘.“
„Da ich kein Messgerät dabeihabe, beginne ich, die Breite und Höhe der Gebäude anhand meiner Körpergröße, welche 1 Meter und 88 Zentimeter beträgt, abzuschätzen …“
– Joshua Gschwentner, Wahrnehmungsbericht, März 2020

„Beobachtet fühle ich mich die ganze Zeit, denn ich weiß von der polizeilichen Videoüberwachung, die schon seit längerer Zeit installiert ist. Ich werde als teilnehmender Beobachter also selbst beobachtet.“
– Stefan Ouroumidis, Wahrnehmungsbericht, März 2020
Unbeeinflusst vom pandemiebedingten (Nicht-)Geschehen gaben sich die installierten Überwachungskameras rund um die Viaduktbögen zu erkennen. Die forschenden Student:innen fühlten sich bald als Beobachtende selbst beobachtet. Die überall präsenten Kameras vermittelten ihnen ein Gefühl des Unbehagens. Trotz der durch den Lockdown als surreal empfundenen Atmosphäre wurden sie durch die sichtbaren Überwachungsmechanismen wieder in die Realität zurückgeholt, die weitere Fragen zur Diskussion aufwarfen: Wer beobachtet hier eigentlich wen? Wer darf wen beobachten? Können wir uns der Beobachtung entziehen? Welche Machtstrukturen lassen sich bei einem Gang durch die Bögen identifizieren?
Eine Bereicherung für die Studierenden dieses zweisemestrigen Seminars war neben den subjektiven Wahrnehmungsspaziergängen und den gemeinsamen philosophischen Diskussionen auch der Aspekt der Ausstellungskonzeption: „So einen Praxisbezug schon während des Studiums zu bekommen, ist eine tolle Chance“, sagt Johanna Böhm, eine der drei studentischen Kurator:innen (neben Johannes Klocker und Johanna Thaler). „Wir haben durch diese verantwortungsvolle Aufgabe schrittweise gelernt, was bei der Umsetzung einer Ausstellung alles zu beachten ist – von logistischen Überlegungen wie der passenden Raumbeleuchtung, bis hin zum Abschluss notwendiger Versicherungen“.
Aber auch die künstlerische Aufbereitung war eine zentrale Überlegung. in der Mitte der Ausstellung präsentiert sich eine Assemblage zweier Kunstwerke: Von der Decke hängt eine vier Meter lange Röhre, die Johannes Klocker auf Innsbruck verschenkt ersteigert und gemeinsam mit Clemens Engel zu einer audiovisuellen Installation zweckentfremdet hat. Durch diese Röhre ist ein Wahrnehmungsvideo projiziert, das sich Besucher:innen auf großer Distanz und untermalt von einer atmosphärischen Klangkulisse ansehen können. „Die Installation bringt die ethnografische Arbeitsweise zum Vorschein: das Hineinzoomen in die einzelnen Gegenstände und sogleich das Sich-Wieder-Entfernen von den beobachteten Objekten“, erläutert Böhm bei der Führung durch den Raum.


Welche Erkenntnis für die Studentin persönlich am wertvollsten war? Johanna Böhm zeigt auf einen goldenen, leeren Bilderrahmen, den die Kurator:innen am Mauerwerk des Bogen 25 anbrachten. Bei näherer Betrachtung lässt sich erkennen, dass die „eingerahmte“ Mauer selbst von Leben zeugt: grüne Moosflächen, Spuren von Schimmelbelag – eine Wohnstätte für kleine Lebewesen. „Dieser Fleck in der Wand macht für mich die Schnittstelle zwischen Kultur und Natur sichtbar. Beides geht zusammen – und diese Erkenntnis hat sich bei uns durch die beiden Forschungssemester gezogen“, erzählt die Studentin begeistert, „mit der Ausstellung wollen wir die Poesie hinter den Bögen zum Vorschein bringen. Wir wollen vor allem zeigen, dass die bunte Vielfalt, die dort zu finden ist, etwas Schönes hat“.
Die Innsbrucker Bogenmeile ist eindeutig ein Mikrokosmos unterschiedlichster Lebewe(i)sen und in ihrer Gesamtheit ein kulturelles Gut der Stadt. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Erfahrung der Diversität in diesem erforschten Feld – von verruchten Ausgehlokalen, handwerklichen Betrieben und kulturellen Initiativen noch einige Jahre von ihrer poetischen Wirkung zeugt.
Bis zum 4. November kann die Ausstellung noch im Bogen 25 besucht werden. Einige der Forschungsergebnisse sowie historische Verweise über die Entstehung der Bögen und ihre Transformation sind auch online archiviert und als digitale Ausstellung dauerhaft zugänglich: gemma-boegen.at
| Brigitte Egger