Das Innsbrucker Theater praesent bringt in experimenteller und offener Form das autofiktionale Werk „Die Freiheit einer Frau“ von Édouard Louis auf die Bühne (zu sehen vom 10. März – 21. April 2023). Im Spannungsfeld zwischen der vorwurfsvollen und zwiespältigen Liebe eines Sohnes zu seiner Mutter und deren Befreiungsversuchen aus ihrem familiären und regionalen Kokon, erhält das Publikum in Gänsehautmomenten Einblicke in das Seelenleben zweier Getriebener.

Der französische Schriftsteller und Soziologe Édouard Louis, 1992 als Eddy Bellegueule geboren, wächst unter ärmlichen und unterprivilegierten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Provinznest auf. Schon früh erfährt er viel Leid durch homophobe Diskriminierung und durchlebt familiäre, prekäre Konfliktsituationen durch seinen alkoholkranken Vater, einer depressiven Mutter und einem, durch Armut und Bildungsungleichheit geprägten, Umfeld. Sein Ausbruch aus diesem Milieu wird schließlich bedingt durch seinen Besuch eines Gymnasiums und sein Soziologiestudium in Paris. Louis arbeitet seine prägenden Kindheitserfahrungen und seinen gesellschaftlichen Klassenwechsel in seinen literarischen Werken auf:
„… das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien; vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich von ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.“
– Édouard Louis in „Anleitung ein anderer zu werden“, 2022
Alkohol, Hass und Armut stehen sinnbildlich für das Leben auf der Verliererseite der Geschichte. Elke Hartmann und Lukas Gander sind die einzigen Darstellenden des Stückes, sie werden durch den Musiker Jakob Köhle in ihren emotionalen Achterbahnfahrten begleitet. Diese musikalischen Einlagen umfassen unter anderem Gesangseinlagen, Gitarrenbegleitung, Keyboard- und Schlagwerkeinsätze. Der Auf- und Ausstieg des Erzählers wird von Hartmann und Gander abwechselnd dargestellt, wobei den Darstellenden nicht zwangsweise eine klare Rolle zugeschrieben werden kann, sondern durch wechselnde Interpretationen in gemeinsamen Vorantreiben der Handlung gewährleistet wird.
Es ist vier Uhr morgens, der kleine Èdouard schläft und seine Mutter hört in voller Lautstärke die Scorpions. Als der kleine Louis schließlich aufsteht und seine Mutter auf den, von ihr verursachten, Krawall anspricht, wird diese wütend: „Kann man in diesem scheiß Leben auch mal 5 Minuten glücklich sein?“. Solche zerstörerischen Situationen und verzweifelten Aussagen seiner Mutter durchlebt der Protagonist vielfach.
Von der frustrierten Mutter und ihrem schikanierten Jungen, der bedauert aus ihren Lenden entsprungen zu sein hin zur Freiheit und schließlich ins Glück scheint ein übergroßes, gesellschaftliches Hindernis zu stehen. Und doch beschreiten die beiden fast gleichzeitig und mit einiger räumlichen Distanz diesen Pfad.
Der Südtiroler Regisseur Joachim Gottfried Goller und die Dramaturgin Michaela Senn eröffnen dem Publikum die Möglichkeit in eine sozialschwache Familie und deren Probleme einzutauchen. Im Stück findet man eine große Portion an Kritik: an Homophobie, an dem gesellschaftlich dominanten Männerbild sowie dessen Stereotype, an der Gesellschaft und ihrem Umgang mit Emotionen und Problemen, am Hochmut der intellektuellen Kreise und an der Skepsis der Landbevölkerung gegenüber dem Bildungsbürgertum.
Die gesellschaftlich auferlegte Dominanz der Männlichkeit und die Flucht aus deren Fängen wird genauso aufgezeigt, wie die Hoffnung auf Lebensveränderung durch Grenzüberschreitung und Mut. Der Erzähler kämpft ständig gegen die männliche Übermacht, die ihn als Nicht-Mann identifiziert und vermittelt damit den Zuschauenden eine andere, neue Perspektive auf die performative Maskulinität.
Das Stück wird noch bis zum 21. April 2023 in mehreren Aufführungen dargeboten und ist in seiner Suche nach Glück und Befreiung auf jeden Fall eine Inspiration für das Publikum. Von Gänsehautmomenten, fassungsloser Traurigkeit bis hin zu erholsamen Lachmomenten wird nichts ausgelassen. Die Zuschauenden verlassen das Theaterstück mit einigen Antworten, aber auch fundamentalen Fragen zu Sinn und Glücksempfinden.

Kurz und knackig: Auf ein Wort mit Dramaturgin Michaela Senn
komplex (Doris Braunhofer): Édouard Louis brilliert, erschüttert und beeindruckt neben seinen literarischen Versuchen seine Erfahrungen aus Kindheit und Jugend aufzuarbeiten auch in seiner Darstellung von selbsterfahrenem, kollektivem Unglück. Warum habt ihr euch speziell für „Die Freiheit einer Frau“ entschieden?
Michaela Senn: Der Vorschlag, diesen Text auf der Bühne umzusetzen, kam von Joachim Gottfried Goller. Wir hatten ihn angefragt für eine Inszenierung in unserem Theater und haben dann zwischen verschiedenen Vorschlägen ausgewählt. Das Spannende an Édouard Louis´ Literatur ist, dass er einer der wenigen ist, die von dieser so genannten „unteren“ oder „untersten Schicht“ schreiben, dieser aber selbst angehörte. Bei literarischen oder künstlerischen Beiträgen über Arbeiter*innenschichten verfallen sei es Schreiber*innen als auch Rezpient*innen häufig in eine Romanisierung derselben oder betreiben Arten von Mileustudien. Davon ist Louis´ Perspektive weit entfernt. Die Themen, die er behandelt drängen außerdem aktuell in den öffentlichen Diskurs: Klassismus, Armut, Männlichkeit, Homophobie usw. Daher fanden wir es wichtig einen diesbezüglichen Beitrag auch in unseren Spielplan aufzunehmen.
komplex (D.B.): Die stereotype Darstellung einer Frau der Unterschicht, ihres homosexuellen Sohnes und ihr Versuch aus den Missständen zu entfliehen ist gleichermaßen erschütternd wie hoffnungsvoll. Wie habt ihr diese Zwiespältigkeit in der Inszenierung und Umsetzung empfunden?
Michaela Senn: Wie du sagst: in erster Linie als zwiespältig, als auseinanderberstende Kräfte. Gerade das macht es spannend für das Theater: ein Konflikt der sich auf mehreren/vielen Ebenen entfalten lässt. Eine Art Happy End, das zugleich eine herzzerreißende Traurigkeit offenlegt. Die Möglichkeiten, von denen der Kapitalismus immer spricht, und die tatsächlichen Grenzen, die einem Menschen unmittelbar treffen, wenn man unter „schlechteren Voraussetzungen“ ins Leben startet. Man kriegt das bei Louis, oder auch Annie Ernaux, Didier Eribon, so eindrucksvoll vorgeführt: Der/Die Einzelne ist nicht Schuld, es ist das Strukturelle, das Politische, welches vielen Menschenleben enorme Grenzen aufzwängt.
Natürlich haben wir im Probenprozess auch immer wieder Parallelen aus unseren Leben untersucht, erzählt, uns daran abgearbeitet, überprüft – viele von uns kommen ja aus Verhältnissen, in denen Kulturelle Bildung nicht soooooo groß geschrieben wurde. Wir haben uns ständig darüber erzählt, wie es sich für uns anfühlt, in einer anderen Welt anzukommen und einen Teil der Herkunfts“welt“ hinter uns zu lassen. Natürlich sind die Unterschiede im Vergleich zu den Menschen in Èdouard Louis´ Text nicht so eklatant.
| Doris Braunhofer