Gestern Abend ging die DIAMETRALE offiziell in die zweite Runde – nach dem eindrucksvollen Auftakt vor drei Wochen, der auf wohl jede*n in gewisser Art und Weise eingewirkt hat. (Die Veranstalter*innen veröffentlichten etwa auf Facebook die Nachricht einer Besucherin, die sich bei ihnen dafür bedankte, dass sie vom Film „Sommer der Liebe“ von Wenzel Storch nachhaltig verstört worden ist).

DIAMETRALE – Eröffnung (Foto: DIAMETRALE)
„Legacy? Where is it? It’s gone“
So kunterbunt wie beim Warm-Up ging es jedenfalls auch gestern zu – wenn auch zu Beginn mit düsteren Tönen. Der Kurzfilm „Der weiße Elefant“ (2017, 20 min.) von Regisseur Jan van Hasselt beschäftigt sich auf dokumentarische Weise mit den Schattenseiten der Mega-Sportveranstaltungen in Rio de Janeiro und dem immer stärkeren Auseinanderklaffen von Arm und Reich. Darauf nimmt auch der Titel Bezug, wie der Film anfänglich verkündet: „Elefante branco“ ist ein brasilianisches Sprichwort für etwas, das mehr Ärger als Nutzen bringt. Auf der Website des Filmbüro Bremen schreibt der Regisseur über die Hintergründe seiner Arbeit: Ursprünglich sollte es ein Film über das verlustreiche Stahlwerk der deutschen Firma Thyssen-Krupp in der Nähe von Rio werden. Geworden ist daraus ein vielschichtiges Kunstwerk über die symbolträchtigen Kultbilder der Stadt – Copacabana, Zuckerhut, Favelas, Christusfigur – die gleichzeitig die Probleme der Stadt repräsentieren und ihr Gegenteil bedeuten sollen. Durch den Film führen ein als Batman kostümierter Mann und sein in Müllsäcke gekleidetes Ebenbild. Sie sitzen im Taxi und reden über das Erbe der Stadt, über den Fortschritt, über die soziale und wirtschaftliche Segregation. Der Film zeigt verschiedenste Cariocas (Einwohner von Rio der Janeiro): Ein Musiker am Bahnhof, der „Leru Leru“ und über Tirol singt; ein ärmlicher Maler, der sagt: „Die Bilder von den Favelas verkaufen sich am besten“; Protestant*innen, die gegen die Polizeigewalt wettern. Am Ende malt der Sprecher aus dem Off ein unheilvolles Bild: „So könnte es in 20 Jahren auch in Deutschland aussehen. Man merkt, dass da mal Geld war, aber keiner will sich eingestehen, dass diese Zeiten vorbei sind.“
„The best art is also the most useless one”
Der Hauptfilm des Eröffnungsabends folgte im Anschluss: „Whatever Happened to Gelitin“ (2016, 82 min.) von der Regisseurin Angela Christlieb, die selbst bei der Vorführung anwesend war. Der Film beginnt mit vier nackten Männern in High Heels, die eine dreckige Wohnung putzen. Der Anfang ist programmatisch für alles, was danach passiert: Gelitin (ehemals Gelatin), die österreichische Künstlergruppe rund um Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban, sind schonungslos, verrückt, spontan und ernsthaft in allem, was sie tun. Der Film bedient sich unterschiedlichsten Archivaufnahmen, die laut Regisseurin 20 Jahre lang in einer Kiste verstaubt sind. Angela Christlieb hat sich dieses Materials angenommen und präsentiert es im Rahmen einer Idee, deren humorvoller Charakter sich meisterhaft den Grundsätzen der Gruppe anschließt: Gelitin, so der charismatische „Moderator“ des Films, der Künstler und Gelitin-Kollaborateur Salvatore Viviano, sind verschwunden. Nach einer durchzechten Nacht im Bann der vier Männer sitzt er auf einem überdimensionierten Bett mit Flauschmikrofon und verkündet, er macht sich jetzt auf die Suche nach der Künstlergruppe. Seine Reise führt durch Österreich und in die USA, wo er verschiedenste Künstler und Galeristen – darunter Regisseur John Waters, Filmemacher Tony Conrad und Künstler Liam Gillick – befragt, ob sie denn eine Ahnung hätten, wo sich die Vier aufhalten könnten. Die Interviews zeichnen ein Bild von Gelitin, die sodann untermalt werden von den Archivaufnahmen der bekanntesten Projekte der Künstlergruppe, darunter: „The B-Thing“ (New York City, 2000): Bau eines Balkons aus dem 91. Stock des World Trade Centers; „Gelitin at the Shore of Lake Pipi Kaka“ (London, 2003): Ein menschlicher Geburtstagskuchen mit Kerzen in allen Körperöffnungen; „Arc de Triomphe“ (Salzburg, 2003): Die Figur eines brückeschlagenden Mannes, dessen Urinstrahl in den eigenen Mund trifft; „Hase/Rabbit/Coniglio“ (Piemont, 2005): Ein rund 60 Meter langer pinker Hase in der Landschaft, der erklommen werden kann und inzwischen gänzlich von der Natur eingenommen wurde; „Chinese Synthese Leberkäse“ (Bregenz, 2006): Ein Schlammbad; „Das Kakabet“ (Zürich, 2006): Fotos von Kot, verschlungen zu Wörtern und Sätzen; „La Louvre – Paris“ (Paris, 2008): Ein ganzes Stockwerk voll mit Kunstwerken und Bildern der Gruppe; „Die Wachauer Nase“ (2014, Niederösterreich): Eine überdimensional große Nase zum Begehen.
In einem der seltenen Momente, in denen sich einer der Künstler direkt der Kamera zuwendet, spricht er aus, worum es bei Gelitin eigentlich geht: „Art is the counterconcept of capitalism. Kunst muss nichts sein, muss nicht effizient sein.“ Es geht also um das Sinnlose in der Kunst, um die Anarchie in der Kunst, um die pure, nutzlose Lebensfreude. Das zeigen Gelitin in all ihren Ausstellungen, Happenings und Performances, die im Gegenzug Kritiker*innen und Gegner*innen als bieder und spaßverderberisch erscheinen lassen.
Kurzinterview mit Angela Christlieb
Nach der Filmvorführung war unsere Neugierde noch nicht ganz gestillt und so haben wir Regisseurin Angela Christlieb in ein Gespräch verwickelt, um noch etwas mehr zu erfahren:

DIAMETRALE Martin Fritz & Angela Christlieb (Foto: DIAMETRALE)
k: Wie kamen Sie auf die Idee, die schräge Künstlergruppe in einem Film festzuhalten?
Angela Christlieb: Ich hab’ selbst vor einigen Jahren eine Performance der Gruppe in Wien gesehen, die mich total fasziniert hat. Bis dahin kannte ich die Gruppe kaum, nach dem Abend bin ich sofort heim und hab gegoogelt, was die eigentlich sonst noch so machen und bereits gemacht haben. Die kreative Arbeit der Gruppe hat mich nicht mehr losgelassen und so war irgendwann klar, dass ich einen Film darüber machen muss. Von der Idee bis hin zur Umsetzung war es allerdings ein langer Weg. Gelitin hatten nämlich kein Interesse daran, Interviews oder gar Erklärungen zu ihren Performances zu geben. Sie haben mir aber dann ihr eigenes Videomaterial, das sie selbst nach der Aufnahme nie mehr angesehen haben, zur Verfügung gestellt.
k: Was denken Sie: wie findet das Experimentelle in der österreichischen Kulturszene platzt, die oftmals doch noch eng mit der Tradition in Verbindung steht? Ich habe mich das bei einer der Anfangsszenen gefragt, in der eine Performance von Gelitin von einer Musikkapelle in Tracht begleitet wird…
Angela Christlieb: Ich denke, dass genau die Gegensätze und das Aufeinanderprallen zweier Welten das Wichtige sind. Bei der Performance gab es einige Protestler, denen das, was vor sich ging, missfiel und die kein Verständnis für das Experimentelle zeigten. „So was wird finanziert und das auch noch mit staatlichen Mitteln? Wie kann es dazu kommen?“ waren beispielsweise Fragen, die in den Raum geworfen wurden. Aber genau diesen Kontrast braucht es, denn das ist, was die Kunst und Kultur eben ausmacht.
k: Sie haben selbst Performances von Gelitin miterlebt – wie fühlt man sich beim Zusehen? Gab es Momente, wo sie gesagt haben, das ist jetzt wirklich zu viel und überschreitet eine Grenze?
Angela Christlieb: Nein, nein gar nicht. Die Performance, bei der ich mit dabei war, war fantastisch. Es war wie ein Fest. Alle Anwesenden wurden mit reingezogen, egal ob Familien mit Kindern oder Vertreter des Kunstbereiches. Es gibt bei den Performances auch immer was zu essen, das ist der Gruppe sehr wichtig und sie engagieren Köche für die Zuseher. Ich muss aber sagen, dass ich bei den ganz extremen Sachen selbst nicht mit dabei war. Wenn ich ans Filmmaterial denke, dann gab es schon Aufnahmen, die zu arg waren. Ich habe zum Beispiel einen Ausschnitt einer Performance in Bregenz nur im Miniformat in den Film mit hineingenommen, weil ich wusste, dass das in Groß zu weit gehen würde. Es war ganz und gar nicht jugendfrei. Es gibt da diese Grenze von dem, was man zeigen kann und was nicht und das wusste ich auch.
JB und JZ