“To collect photographs is to collect the world.”
– Susan Sontag, On Photography

Fast 200 Jahre sind vergangen, seit das erste Foto der Menschheitsgeschichte und – wenige Jahrzehnte später – die ersten Bewegtbildaufnahmen entstanden. Heute, da Kameras frei zugänglich und leistbar geworden sind, wirbt ein Überangebot von visuellem Material im digitalen und realen Raum unermüdlich um unsere Aufmerksamkeit. Und beinahe jede*r von uns konsumiert diese visuellen Angebote nicht nur, sondern schafft sie auch selbst, fügt durch das Festhalten kleiner Alltagsmomente neues Material zu diesem stetig anwachsenden Berg an visueller Information hinzu. Doch was wird aus all dem wenn wir einmal nicht mehr sind? Ändern diese Filmaufnahmen im Laufe der Zeit ihre Bedeutung und wenn ja, was werden sie einmal über uns aussagen?
Für ihr Vorbrenner-Projekt setzten sich Dokumentarfilm-Cutterin und Regisseurin Beatrice Segolini und Musiker und Komponist Joachim Planer mit diesen und ähnlichen Fragen auseinander. Ihrer künstlerischen Kollaboration gaben die zwei Südtiroler*innen den Namen Dogstar2 und vereinten im Zuge von SUPERNOVA – Electro Live Cinema ihre Fähigkeiten, um sich „orphan films“, also Waisenfilmen, anzunehmen, und so vernachlässigtem und vergessenem Filmmaterial noch einmal ein Publikum zu geben. In einem fast archäologisch anmutenden Prozess arbeiteten sich die Künstler*innen durch unzählige Stunden von historischem Filmmaterial, gruben einzigartige Momente heraus und ordneten diese in einer Collage aus Bild und Ton neu an.
Etwa eine Stunde lang rauscht eine hypnotisierende Abfolge von Filmausschnitten an uns vorbei, die es schafft, sowohl schön, amüsant als auch erschreckend zu sein. Oft sehen wir nur zusammenhanglose Fragmente, Andeutungen von etwas, Ursprung oder Zweck sind schwer auszumachen. Durch die zeitliche Distanz kann SUPERNOVA auf die ästhetische Ebene, die Schönheit von altem Dokumentations- und Werbematerial hinweisen, die im Kontext der eigenen Zeit meist hinter dem Nutzen verblasst. Diese Filmaufnahmen wurden nicht für unsere Augen geschaffen und legen deshalb, wenn wir sie sehen, neue Bedeutungsebenen frei, decken ihre eigene Absurdität oder Komik auf; so wird ein Werbespot für Gesichtscreme mit mechanisch wirkender Narration für uns zum Horrorfilm, ein veraltetes Erziehungsvideo zur Komödie. Mit Grauen verfolgen wir bizarre Tierversuche aus der früheren Sowjetunion und amüsieren uns im nächsten Moment über zahme Datingtipps aus den USA der Fünfzigerjahre. Dieses Herausschälen aus dem Ursprungskontext ermöglicht nicht zuletzt die Musik. Joachim Planer schafft durch seine elektronische Livevertonung einen Reigen aus Bild und Ton, steigert die Intensität des Bildmaterials oder spielt sie herunter: schnelles Klopfen drängt das nächste Bild herbei, Sirenenartige Geräusche begleiten uns durch Aufnahmen von Krieg und Gewalt. Nur an ausgewählten Stellen ist für ein paar Sekunden der Originalton zu hören.
Das Filmprojekthat nicht nur ästhetische, sondern auch zutiefst politische Untertöne. Frauen treten in diesen Zeitdokumenten oft mehr als Dekoration denn als Subjekte auf, schweben in exotische Tänze und Kostüme verwickelt durch Dokumentarfilmaufnahmen oder präsentieren beschwingten Schrittes ihre strahlend reinen Küchen und gepflegten Familien, die Grenzen ihrer kleinen Reiche mit ihren tanzenden Füßen vermessend. Aufnahmen von Atomtests und Kindern mit Gasmasken, die einander im Schulunterricht vorführen, wie man sich richtig unter Tische oder in Ecken kauert um das eigene Leben zu schützen, wirken beklemmend. Ein Rendezvous wird im Kontext von Kriegsbildern zur fratzenhaften Allegorie, als sich die Herzdame im Gespräch mit ihrem Angebeteten neckisch auf einer Kanone räkelt.
SUPERNOVA macht keine klaren Aussagen, stellt keine Behauptungen auf. Vielmehr gibt das Projekt Einblick in einen riesigen, vergessenen Speicher, ein kollektives Gedächtnis, durch welches unzählige Waisenfilme geistern, auf ein neues paar Augen, ein Publikum wartend. Da die Aufführung bis auf einige Titelsequenzen ganz ohne Kommentar auskommt, ergibt sich ein roter Faden rein durch Anordnung und Schnitt des Materials, geht zwischendurch verloren, taucht wieder auf. Wir sind als Publikum derweil ständig damit beschäftigt, diesem Chaos an Überinformation eine klärende Struktur zu geben. Doch jenseits dieser verhältnismäßig kleinen Auswahl wartet ein unüberschaubares Sammelsurium an weiterem Material, ohne Struktur, ohne Ordnung. Am Ende der Aufführung weist eine kurze Sequenz auf die Tatsache hin, dass allein auf YouTube jede Minute etwa 400 Stunden Videomaterial hochgeladen werden. Wie viele Waisenfilme wird jede*r von uns in unserer Lebenszeit produzieren? Vielleicht gilt es nicht nur in Bezug auf die materiellen Güter, die wir hinterlassen, sondern auch in Bezug auf die Fotos und Videos, die wir ansammeln, eine Form der Verantwortung herauszubilden. Hinter sich aufzuräumen, digitale Ordnung zu schaffen, zu löschen, was nicht mehr gebraucht wird, um die Welt, die nach uns kommt, zu entlasten. Denn sonst könnten unsere Spuren möglicherweise eines Tages ein unverhofftes Eigenleben entwickeln.
DS