Ein Tanz in und mit den Fragen – Tarotperformance “kidnapped by our own delicious delusions”

Am 19. Juni war die Endpräsentation des Performanceprojekts “kidnapped by our own delicious delusions” im Rahmen des Vorbrenner 21 zu sehen. In den Tagen davor arbeiteten und forschten die drei interdisziplinären Künstler:innen Johanna Nielson, Zoumana Meité und Agnes Schneidewind in den Räumlichkeiten des BRUX / Freies Theater Innsbruck an ihrem Projekt – einige Open Studio-Termine gewährten Besucher:innen derweil einen intimeren Einblick in den fortlaufenden Experimentierprozess rund um die Karten des Tarot.

Bild: Delia Salzmann

Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“

– Rainer Maria Rilke in Briefe an einen jungen Dichter

Tarot ist in meiner Erfahrung etwas, das man in der Theorie vielleicht nicht ganz ernst nimmt, vor dem man dann aber doch ein bisschen Angst bekommt, wenn man es tatsächlich verwendet. Diese kleine Prise Nervosität verleiht der Angelegenheit aber auch einen gewissen Reiz, besonders in der Gruppe: selbst wenn die anderen Anwesenden nicht nachvollziehen können, mit welchen Wahrheiten das Tarot einen selbst möglicherweise gerade konfrontiert, muss man sich beim Kartenlegen doch kollektiv in unsicheres Territorium hinauswagen und sich voreinander ein wenig verletzlich machen. Eine leichte Nervosität können wir also auch beim Betreten des BRUX nicht abschütteln, als wir einen der Open Studio Termine zum Projekt „kidnapped by our own delicious delusions“ besuchen. Das Performance-Projekt wird durch die Praxis des Tarot strukturiert: jede Einheit beginnt mit einer Frage, und mit einer Karte. Was danach passiert, ist schwer vorauszusagen oder vollständig nachzuerzählen, da je nach Karte und Situation völlig andere Dinge geschehen. Die drei Performer:innen kommen aus verschiedenen künstlerischen Disziplinen und jede:r nutzt seine oder ihre ganz eigene gestalterische Sprache, um Ideen und Impulsen Ausdruck zu verleihen. So entstehen neben Tanz und Bewegungsabläufen auch Zeichnungen oder kurze Schriftstücke, Lichtspiele, experimentelle Soundeffekte oder Installationen mit den im Raum vorhandenen Objekten. Nichts ist dabei sicher oder auf seinen üblichen Nutzen reduziert: der Overheadprojektor wird zum durch den Raum kriechenden, lebendigen Wesen, das Klebeband zum Pendel oder Musikinstrument, Lichtquellen werden bis zur Unkenntlichkeit überklebt oder aus Stiften und Scheren fragile Türme gebaut, die schon im nächsten Moment eine andere Idee wieder zum Einsturz bringt. Hinterher teilen Künstler:innen und Zuschauer:innen im Gespräch ihre subjektiven Eindrücke hinsichtlich des gerade Erlebten, falsch oder richtig gibt dabei es nicht.

Vor Beginn der Performance betonen die drei, dass sie das Tarot nicht im klassischen Sinne als ein Mittel zum Voraussagen der Zukunft sehen oder verwenden wollen. Sie nutzen Tarot vielmehr „as a tool for and as the subject of the research“. Die Karten nehmen hier also eine zweifache Position ein: wird einerseits ihr Inhalt tänzerisch und gestalterisch interpretiert und untersucht, so legt dieser Prozess gleichzeitig auch den Weg in ein großes Unbekanntes frei, das dahinterliegt. Ein offener Raum, um assoziativ, spielerisch zu denken, der Schemenhaftes artikulierbar macht. Im Open Studio sind meine Begleitung und ich mit den drei Künstler:innen alleine. Da wir zu zweit gekommen sind, stellt nur sie eine Frage, welche sie, unsichtbar für den Rest von uns, auf ein Blatt Papier schreibt. Anschließend wird in gewohnter Manier eine Karte gezogen, dann breitet sich Stille im Raum aus. Alle fünf Augenpaare konzentrieren sich schweigend auf die aufgelegte Karte: „Le Bateleur“. Nach und nach erheben sich die Künstler:innen und folgen wie selbstverständlich einer inneren Idee, hinein in den geheimnisvollen Raum der Möglichkeiten.

Bild: Delia Salzmann

Eine vernetzte Erinnerung kann hier genauso als Inspiration für Interpretation dienen wie ein unabsichtlicher Kaffeefleck auf der Karte oder die Tatsache, dass dieselbe Karte am Vortag schon einmal gezogen wurde. Die Performance ist also mehr als ein lineares Ablesen des vermeintlichen Karteninhalts: beim Auftauchen der „Justice“ wird nicht etwa demonstrativ diskutiert oder ein unsichtbarer Streit geschlichtet, wie man es sich vielleicht in einem Theater erwarten würde. Die Interpretationen der Künstler:innen sind viel weiter gefasst, manchmal auch simpler, manchmal ist es etwa nur eine Farbe auf der Karte, die ein bestimmtes Gefühl erzeugt und den performativen Prozess formt. Tatsächlich basiert jeder Prozess des Tarotlegens ja auf Assoziation und der Bereitschaft, sich mit Fantasie, statt mit Rationalität, auf die Karten einzulassen. Bewegt man sich hinterher in der Reflexion wieder aus diesem assoziativen Raum hinaus, ist das ein bisschen, wie aus einem Traum aufzuwachen.

Und genau wie bei einem intensiven Traum wirken auch die in „kidnapped …“ gewonnenen Eindrücke nach und offenbaren teilweise erst im anschließenden Gespräch ihre volle Bedeutung. Dabei geht es um mehr als eine einzige Karte, oder eine einzige Antwort. In der ästhetischen Auffächerung des Frage-Antwort-Prozesses werden die Karten aus einem ganz neuen Blickwinkel sichtbar. Der Spaß am Ritual um des Rituals willen und der zwischenmenschliche Prozess sind dabei mindestens genauso wichtig wie die Inhalte, die tatsächlich gelegt und gelesen werden. Die geheime Frage auf dem gefalteten Zettel macht die Performance in den Augen der fragenden Person zu einem einzigen kunstvollen Reigen aus Antworten und ist doch zugleich für jene, die sie nicht kennen, gar nicht so wichtig, steht gewissermaßen stellvertretend für alle Fragen, die wir uns gerade stellen oder stellen könnten. Bei „kidnapped …“ kann deshalb niemand rein Zuschauer:in sein – vielmehr betreten wir gemeinsam eine ungesicherte Zone, in der Fragen und Antworten simultan sprießen und zelebriert werden können.

| Delia Salzmann


www.vorbrenner.org
www.johannanielson.com
www.asjnijdewindt.wordpress.com

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