ESSAYREIHE *TROUBLE | Krebsgang – Zurück*Vor*Quer dem Chthuluzän entgegen

In unserer Reihe *Staying with the Trouble präsentieren wir vier Essays, die von Philosophie-Studierenden der Universität Innsbruck im Rahmen des Projektseminars Staying with the Trouble. Das politische Denken Donna Haraways unter der Leitung von Michaela Bstieler entstanden sind. Den Auftakt macht Yvonne Pallhuber mit ihrem Text Krebsgang:

Krabben können sich vor-, rück- und seitwärts bewegen. An der Anordnung der Sternite kann man erkennen, welche Krabben sich in alle Richtungen und welche sich vornehmlich seitwärts bewegen. Bei ersteren sind die Sternite radial, bei letzteren im rechten Winkel zur Längsachse angeordnet. Wenn Krabben schnell laufen müssen, geschieht dies immer seitwärts (,Dwarslöper‘). Dabei wirken die Beine beider Körperseiten so zusammen, dass die in Fortbewegungsrichtung liegenden [Laufbeine] Zug ausüben, indem sie sich mediad krümmen, und die gegenüberliegenden drücken, indem sie sich strecken. Auf diese Weise können beachtliche Geschwindigkeiten erreicht werden.

– Wilfried Westheide und Gunde Rieger
Spekulative Darstellung einer Begegnung zwischen Brachyura und Anthropos | Zeichnung: Yvonne Pallhuber, 2012/13

Konturen in Grau zeichnen die Wege des Krebses und des Menschen. Die Scheren ausgestreckt zu den menschlichen Fingern. Die Menschtentakeln in sanfter Annäherung des Krabbenkorpus. Sie berühren einander nicht. Sie verbinden einander ohne physischen Kontakt. Beide erinnern sich an die Form des anderen, Glied um Glied gewachsen und weiter wachsend.

Der Krebs weiß um die weichen Tentakeln des Anthropos, die gleichsam epistemisch tastend die Umwelt erfühlen und erkunden. Er hat sie sich angeeignet, drei menschliche Finger, die an seinem Körper wachsen. Und der Mensch hat sich einen harten Schalenkörper mit Krabbenbeinen angeeignet.

Jenes Bild des Krebses mit menschlichen Fingern und der nach ihm fühlenden Menschenhand ist doppelt paradox: zum einen aufgrund des Nicht-Sichtbaren seiner Entstehung vor acht bis neun Jahren, die beim gegenwärtigen Anblick die Melancholie der zerronnenen Zeit erneut fließen lässt; zum anderen aufgrund des Sichtbaren: die wei-chen Linien aus Bleistift, die das Menschliche und Tierische in Begegnung und Vereinigung mit- und ineinander wachsen lässt. Jener Abstand, in dem sich die Physis von Mensch und Tier nicht berühren, jene Fuge der Kontingenz, jene Schwelle der Anerkennung zwischen den Spezies schafft Raum für spekulative Imagination aller Arten von Cohabitation.

Eingang

„Ich denke, ich hoffe, es ist möglich, wenn Sie so wollen und unter Vorbehalt von Änderungen – denn, wie Sie wissen, bin ich wie ein Krebs, ich bewege mich seitwärts –, daß ich nacheinander das Problem“ der Zeit (Michel Foucault), das Problem ihrer Aneinanderrei-hung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (de-/re-)montieren werde.

Kennen Sie die Geschichte vom Krebs?

Wenn Ihnen nun eine rückwärts gespielte Melodie ins Ohr flüstert oder Bilder von bösartigen Geschwülsten in den Sinn kommen; oder wenn Ihre Vorstellungskraft astrologische Zeichen und Sterne vor Augen führt, so muss ich Sie leider enttäuschen. Für diese Geschichte müssen Sie nicht in aufgeklärter Haltung Ihren aufrechten Blick nach oben zu den leuchtenden stummen Zeugen im späten Nachtblau werfen, denn jene Begriffe vom Krebs sind nicht die Protagonist*innen dieser Geschichte.

Stattdessen empfehle ich Ihnen, nach unten zu blicken, auf den Boden der Tat-Sachen. Begeben Sie sich in die Körperhaltung eines krabbelnden Wesens, auf allen Vieren, krebsend: Ihre Beine angewinkelt, Ihre Knie auf dem Boden, Ihr Oberkörper parallel zum Grund, Ihre Hände flach ausgestreckt. Betrachten Sie Ihre Finger genau, wie sie den Boden befühlen, sich spreizen, wie alle in unterschiedliche Richtungen weisen.

Krebsen Sie. Vor, vor, zurück. Zur Seite, ein Bein hinter dem anderen. Dem Unbekannten entgegen. Immer weiter in die Untiefen Ihrer Ausprägung, so tief, bis Sie sich selbst erkennen und ins Fremde mutieren. Ins Fremde zu sich selbst.

In diesem Krebsgang soll die Frage diskutiert werden, inwiefern der Figur des Krebses ein revolutionäres Potenzial innewohnt, das ein lineares, anthropozentrisches Zeitverständnis in der Chronologie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kritisch hinterfragen und schließlich radikal durchqueren kann. Insbesondere soll versucht werden, den artgenössischen Krebsgang als kontingenten und respon-sablen Denkweg zu imaginieren und zu beschreiten.

Für die folgende, unstete, quere Geschichte vom Krebs sind Ihre Finger von zentraler Bedeutung. Ihre Finger werden Ihnen Beine sein.

Zurück

Die Krabbe kennt viele Wege der Geschichte. Einer folgt entlang ihrer zoologischen Abstammung, die von einzelligen Gliederfüßern bis zu den Insekten reicht. Die Krabben (Brachyura) beziehen an zoologisch letzter systematischer Stufe ihre Stätte gegenwärtiger Herkunft und machen sich in ihrer je eigenen Art verwandt mit ihren Vorfahren und Nachkommen.

Eine zweite geschichtliche Spur kann im Wort „Brachyura“ ent-deckt werden: Es stammt vom Lateinischen „brachium“ ab und be-zeichnet nicht nur die Schere des Krebses, sondern auch den Arm als vielnützlichen Gegenstand; denn „brachium“ bedeutet mithin auch Ast und Nervenstrang, Segelstange und Seitendamm, Ausläufer eines Gebirges und Schenkel eines Tieres und Zirkels; epistemisch bewegend und motorisch erkundend verweben sich das Botanische und das Neurowissenschaftliche, das Maritime und das Technische, das Alpine und das Anatomisch-Geometrische. Jenes einfache Wort „brachium“ entführt seine aufmerksamen Leser*innen in breite, verworrene Gefilde menschlicher und anders-als-menschlicher Mitwelten. Ein etymologisch geknüpftes Fadenspiel, gesponnen an den Beinen und Scheren der Brachyura.

Im Linksgang sind ihre Beine von zentraler Bedeutung: Es arbeiten jeweils ein Bein der linken und rechten Körperseite zusammen. Dabei bewegen sich ein vorderes und ein hinteres Bein der Gegenseite gleichzeitig, indem das eine Bein zieht, während das andere schiebt. Daraus resultiert ein zweckmäßiger wie rhythmischer Gang, der einen flüssigen Lauf der Krabbe ermöglicht. Einem Fadenspiel gleich, knüpfen sich die Beine der Krabbe zusammen und schreiten im Linksgang in die Vergangenheit voran; zwischen ihren Beinen verzwirnen sich Fäden und weben die vielgestaltigsten string figures.

Im Spiel mit Fäden geht es um das Weitergeben und In-Empfang-Nehmen von Mustern, um das Fallenlassen von Fäden und um das Scheitern […]. Fadenspiele können von vielen gespielt werden, mit allen möglichen Arten von Gliedmaßen, solange der Rhythmus von Geben und Nehmen aufrechterhalten wird.

– Donna Haraway

Fadenspiele benötigen Hände und Finger, Krabbenbeine und Scheren, um zwischen menschlichen und anders als menschlichen Gliedmaßen Fäden zu spinnen und ebenso abzuschneiden. Die Brachyura gibt ihre Fäden an ihre zoologischen Nachfolger*innen, den Insekten, weiter. Als Sympoiesis bezeichnet Donna Haraway jenes „mit-machen“, jene „Mit-Verweltlichung, Verweltlichung mit GenossInnen“. Im gemeinsamen Hervorbringen der Sympoiesis werden Fadenfiguren aus dem artgenössischen und artenübergreifenden Gedächtnis entborgen, die der kommenden Generation den Stoff zur Verweltlichung vererbt. Von Hand zu Hand, von Bein zu Bein, von Gang zu Gang webt sich die Krabbe in die Geschichte ihrer Artgenoss*innen ein. Krebsend verdichtet sie das historische Gewebe einer noch zu schreibenden Historiographie der Kritter, die alle möglichen Lebensformen erfassen.

Das Fadenspiel, eine mehr als menschliche Praxis des Denkens und Erinnerns. Die Beine der Krabbe sollen uns Geschichte(n) sein.

Vor

Die Krabbe kennt viele Wege der Zukunft. Sympoiesis als Verstrickung mit Um- und Mitwelt, als Cohabitation, als „Leben mit“, ist „nicht immer angenehm, unschuldig, schön oder frei von Gefahr“, wie Fahim Amir in Erinnerung ruft. Das destruktive Moment der Cohabitation ist es, das ihre Nachwelt der „Zärtlichkeit der Spezies“ lehrt und gleichzeitig für eine responsable Mitwelt sensibilisiert, die durch sich selbst bedroht ist. Leben und Sterben. Teilnahme und Teilgabe. Diese bilden das sympoietische Geflecht aller menschlichen und anders-als-menschlichen Kritter, die fähig und willens sind, ihr cohabitatives Erbe zu gestalten und an eine responsable Zukunft zu erinnern.

Wie eine Erinnerung an eine cohabitative Zukunft möglich ist, zeigt der Rechtsgang einer vierbeinigen Krabbe. Vier Beine sind unüblich für eine gemeinhin achtbeinige Krabbe. Doch im Laufe ihres Lebens ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie im umkämpften Territorium der Cohabitation ihrer Beine verlustig wird. Da sie über die Fähigkeit der Autotomie verfügt, kann sie ihre verlorenen Beine regenerieren. Jener Vorgang der Autotomie beschreibt Responsabilität durch Regeneration und ist sowohl lebensnotwendig als auch radikal kontingent. Die Krabbe mit vier Beinen ist stets fähig, ihren physiologischen und ökologischen Herausforderungen zu antworten und sich trotz allem zu regenerieren und fortzubewegen. Analog zu ihrem Linksgang, der sie als Zeugin von vergangenen und begangenen Gefilden zu sich selbst führt, schreitet die Krabbe im Rechtsgang einer unbekannten Zukunft entgegen, der sie sich erst erinnern muss.

Die Krabbe kann nun im responsablen Rechtsgang nicht nur eine Sympoiesis bewandern, sondern auch einer Zukunft der Vergangenheit entgegengehen.

Der Gang der Krabbe soll uns Zukunft sein.

Quer

Die Krabbe kennt viele Wege der Zerstreu-ung. Um zerstreuen, zersplittern und kom-postieren zu können, müssen alte Denkweisen neu gedacht, bewährte Methoden neu probiert, bekannte Wege neu beschritten werden. „Es ist von Gewicht, welche Gedanken Gedanken denken“, schreibt Hara-way und betont damit die Praxis des Unruhig-Bleibens; es ist von Bedeutung, welche Zeiten Zeiten verzeitlichen. Zeit muss (re-/de-)montiert werden, um Kompost werden zu können. Mithilfe der (Dis-)Position durch Dys-Position lehrt Georges Didi-Huberman das Montieren der Zeit:

Montieren: Sich die Zeit nehmen, um die Zeiten wieder aufzuspalten, sie zu öffnen. Sie wieder neu zu lernen, sie wiederzuerkennen, sie uns ,remontiert‘ wiederzugeben

– Georges Didi-Huberman

Werden die begangenen Gangarten der Krabbe neu beschritten, die überquerten Wege der Zeitlichkeit neu durchquert, so liefern sie in ihrer Zerstreuung ein spektrales Bild von Zeit, das in vielen Farben schimmert und in viele Richtungen weist. „Spectrality is, in part, a mode of historici-ty“, schreibt Carla Freccero über jene „queer spectrality”, die in Interrogation durch Vergangenheit und Zukunft von uns nach Antworten, nach Responsabilität ver-langt.

Von jener queeren Spektralität zeugen die artgenössischen Gangtypen der Krabbe: Zum einen ist die Beinkoordination der Krabbe in sich selbst gespiegelt; zum anderen reflektieren die Beinstellungen von Links- und Rechtsgang die jeweils andere Gangart. In der Begegnung entfernen sie sich, im Entfernen begegnen sie sich. Schritt für Schritt durchqueren sie das Spektrum der Zeit und gehen einer que)e(ren Zeitlichkeit entgegen.

Que)e(re Temporalität restrukturiert das lineare, homogene und anthropozentrische Zeitregime, indem temporale Unordnung durch Montage hergestellt, neue, anders-als-menschlich Akteur*innen involviert und Unruhe gestiftet wird. Alle retrospektiven wie zukunftsgerichteten Gangarten der Krabbe dokumentieren ihre Zeitlichkeit und Verletzlichkeit; sie entbergen das sensible Archivmaterial, das durch diverse Verweltlichungspraktiken als Erfahrung mit und von Cohabitation erst gesammelt werden muss; „um die schiere semiotische Stoff-lichkeit jener wertzuschätzen, die früher da gewesen waren“ (Haraway).

Dies alles nenne ich das Chthuluzän – vergangen, gegenwärtig und kommend.

– Donna Haraway

Vergangenheit ist Gegenwart ist Zukunft. Ein verwickelter Knäuel der Zeit, in dem der Krebs involviert ist und sich schräg evolviert. Im que)e(ren Krebsgang dem Chthuluzän entgegen.

Ausgang

Aber noch weiß ich nicht, […] ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.

– Günter Grass

Erinnern Sie sich an den Eingang dieser Geschichte?

Es galt der Frage nachzugehen, inwiefern der Figur des Krebses mithilfe ihres in-/e-/re-volutionären Potenzials das lineare Zeitregime von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchqueren könne. Die in diesen Zeilen skizzierten Spuren des artgenössischen Krebsgangs mit seinen verwickelten, fadenverspielten Links- und Rechtswendungen sollen einen kontingenten sowie responsablen und que)e(ren Denkweg demonstrieren, das anthropozentrische Zeitmodell demontieren und in que)e(re Temporalitäten remontieren; in der Hoffnung, eine spekulativ-feministische Philosophie in unruhige Gewässer und neue temporale Strömungen zu treiben.

Eingangs haben Sie sich in die Position des Krebses begeben. Ihrer krabbenartigen Hand sind Finger gewachsen, die Ihnen zu Beinen wurden und mit denen Sie die Spuren des Krebsgangs nachverfolgen konnten:

  • zehnbeinig, im An- und Weiterdenken an die Fadenfiguren seiner Vorfahren und Nachkommen;
  • seitwärts, dem Fortschritt anthropozent-rischer Zeit zum Trotz;
  • spektral, dem Chthuluzän entgegen.

Sie sind bis hierher gekrebst; zurück, vor, quer.

Sie können die Gangarten des Krebses variabel re-/de-montieren und in neue (Un-)Ordnungen zerlegen. Durch immer neue Montagen des Krebsgangs können Sie que)e(r zur Geschichte gehen, in die Vergangenheit vorwärts, einer Zukunft entgegen.

Die Spuren des Krebsgangs sollen uns Weg wie Irrung sein.


Kurzbio

Yvonne Pallhuber

studiert Geschichte und Philosophie an der Universität Innsbruck und ist studentische Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Aktuell macht sie sich im Krebsgang auf den Weg in die weiten Gefilde einer spekulativ-feministischen Philosophie und ihrer queeren Zeitlichkeiten.

Die Originalversion des Essays (inkl. Literaturverzeichnis) kann hier heruntergeladen werden:

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