Zum 30. Mal jährt sich das Internationale Filmfestival Innsbruck heuer und wartet trotz mehrmaliger Verschiebungen aus bekannten Gründen mit einem Filmprogramm von höchster Qualität auf. Unsere Redakteurin Sarah Caliciotti hat sich im Zuge dessen mit dem Regisseur eines ganz besonderen Films unterhalten: Milo Rau, Filmemacher, Essayist und Autor, inszenierte nichts Geringeres als „Das neue Evangelium“. Einen modernen Jesus-Film, der die gegenwärtigen gesellschaftlichen Missstände in den Vordergrund rückt und die Frage nach der Aktualität einer Jesus-Figur stellt.
Die gegenwärtigen Missstände, das sind u. a. mehr als 500.000 Menschen, die über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind, um folglich auf Tomatenfeldern versklavt zu werden und dort unter unmenschlichen Bedingungen in Ghettos zu leben. Gemeinsam mit ansässigen Kleinbäuerinnen und -bauern inszenieren sie die Revolte der Würde, eine politische Kampagne, die für die Rechte von Migrantinnen und Migranten kämpft.

komplex: Als Matera 2019 zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde, wurden Sie gefragt, ob Sie dort inszenieren könnten. Wie kam es zur Idee eines Jesus-Films? Worin liegt für Sie der Wert, die aktuellen Missstände, die Sie aufzeigen, in einen biblischen Kontext zu setzen?
Milo Rau: Im Grunde war es umgekehrt – ich wollte einen Jesus-Film inszenieren, nicht zuletzt weil sich Matera nach den beiden Jesusfilmen von Pasolini 1964 und von Mel Gibson 2004 dafür natürlich ausgezeichnet eignet. Ich hatte vor, Leute vom Rande der Gesellschaft zu casten und einen Film zu machen, der in der Realität landet – ich habe aber die Krassheit der Realität, die sich fast ironischerweise um die Kulturhauptstadt Europas herum befindet, unterschätzt. Tausende von illegalisierten Menschen werden von der Mafia und von den großen Konzernen ausgebeutet, sie werden von der Politik allein gelassen, zum Teil auch absichtlich in diese Lage gebracht, um Billigproduktion zu ermöglichen. Da habe ich gemerkt, dass Jesus einer von ihnen sein muss und für sie kämpfen würde, käme er wieder. So hat sich das Ganze vom Jesus-Film mehr zur Frage hin entwickelt: Wer wäre Jesus heute?

k: Neben professionellen Schauspieler:innen spielen vor allem politische Aktivist:innen mit. Wie verlief der Cast? Nach welchen Kriterien wählten Sie die Mitwirkenden aus und welche Rolle spielte Diversität dabei?
Rau: Ich würde es nicht unbedingt als Diversität bezeichnen, sondern als eine Frage der Sinnhaftigkeit: Jesus von einem klassischen Schauspieler darstellen zu lassen, macht wenig Sinn, denn die Botschaft ist: Da spricht ein Messias, der den Menschen, die ihre Würde strukturell verloren haben, diese Würde wiedergeben möchte. Dafür kam dann nur Yvan Sagnet in Frage. Dann habe ich begonnen, Leute zu suchen, die Aktivist:innen sind und ihm als Apostel folgen würden oder bereits folgen, weil sie von seiner Botschaft schon überzeugt sind und für dieselbe Sache kämpfen. Ich verstehe Diversität aber nicht wie unsere Elite, die das bestehende System sozusagen „blackfaced“ und damit Probleme gelöst zu haben glaubt. Diversity, wie die kleinbürgerlichen Eliten es verstehen, spielt, wenn man den Film ansieht, keine große Rolle. Dass Jesus schwarz ist und seine Mutter weiß und Jüdin, vergisst man einfach, weil die Menschen und ihre Legitimität, diese Rollen zu spielen, im Mittelpunkt stehen. Jesus selbst sagt ja: Es geht nicht um deine Worte und deine Stellung in der Gesellschaft, es geht um deine Taten. Die Identitätspolitik, die so stark begonnen hat, die Leute in ihrer Identität als Opfer festzuschreiben, die sagt, traumatisierte Menschen können nicht mehr zu Akteuren, Akteurinnen werden, sondern sind für immer Opfer, ist extrem gefährlich. Das ist antirevolutionär, antibiblisch und schlicht antihuman. Ich habe versucht, in meiner Arbeit zu zeigen, dass das nicht die Ebene ist, auf der wir einander begegnen sollten.
k: Im Film verschmelzen mehrere Ebenen – von Dokumentarischem über den Cast und das Making of, über klassische Spielfilmteile bis hin zu der politischen Kampagne – warum war es Ihnen wichtig, die alle zu zeigen?
Rau: Der Prozess ist mir immer wichtiger als das Produkt. Schauspieler:innen, die schöne Dinge tun, machen einem die Arbeit als Regisseur natürlich leicht, da kannst du im Prinzip unterm Tisch schlafen. Solange das Geld da ist, kannst du ein gutes Drehbuch nicht ruinieren. Mich interessieren die Komplexität und die verschiedenen Ebenen und mich interessiert, die Art wie der Film entsteht und die Wirklichkeit, in der er entsteht, zu verändern. Wir konnten 720 Leute regularisieren dank dem Film, dank des Fair-Trade-Labels für Tomaten, das daraus entstanden ist und durch die Wohnungen, die die zuvor obdachlosen Aktivist:innen nun haben. In dem Sinne ist das ein sehr realistischer Film – die Fiktion braucht man, um die Realität zu zeigen. Aber der Ort Matera wurde beispielsweise nicht nur in der Funktion genutzt, dass es ähnlich aussieht wie das alte Jerusalem, wie es zum Beispiel bei Mel Gibson der Fall war, sondern wir zeigen immer Ausschnitte, wo die gesamte Geschichte sichtbar wird.
k: Was war Ihr persönliches Ziel mit diesem Film?
Rau: Schönheit, Wahrheit und Würde.
Ein Film muss schön sein, aber er muss auch wahr sein. Die Leute, die im Film die Wahrheit und Schönheit darstellen, sollen dann zur Würde finden, sonst macht der ganze Vorgang keinen Sinn. Im Speziellen wenn man einen Jesus-Film macht, wäre es doch widersinnig, zu einer Welt, in der so viel Leid herrscht, eine schöne Parallelwelt in einem Film zu schaffen, der die Menschen zeigt, die all das Leid ertragen müssen. Trotzdem ist schlechte Kunst auch mit den besten Absichten nie erlaubt – der Film muss top sein. Das sehen viele Ideologen anders, für mich gibt es da aber keine Debatte darüber, denn ein schlechter Film ist einfach nur ein schlechter Film.
k: Wie Sie schon gesagt haben, hat der Film die Realität vieler Menschen in Matera verändert: Zuvor obdachlose Statist:innen des Films leben nun in Häusern, die in der Folge dieses Films gegründet wurden. Wie ist es dazu gekommen?
Rau: Man muss es einfach tun, dann passiert es. Alles liegt in unseren Händen, außer der Tod vielleicht.
k: All die Jahre zuvor gab es aber diese Missstände bereits, da ist nie etwas in diese Richtung passiert und nun entstanden sogar mithilfe der Katholischen Kirche Häuser für diese Menschen – wie kann das sein?
Rau: Man muss die richtigen Leute innerhalb der Kirche finden – „die Guten“ sind nach wie vor vielleicht 10 Prozent. Diese muss man in ihrer Menschlichkeit und Solidaritätsfähigkeit ansprechen und ernst nehmen. Sie haben sich nicht in den Vordergrund gespielt im Film, ihnen ging es nicht um Medialität. Sie wollen, dass das Unrecht abgemildert wird.
k: Warum dann nicht schon vorher? Warum hat es diesen Film dafür gebraucht?
Rau: Wir haben sehr viel Zeit investiert, europäische und afrikanische Landarbeiter:innen, Sexarbeiter:innen, die Kirche, klassische Genossenschaften und so weiter an einen Tisch zu bringen. Wir haben einige Solidaritäten geschaffen, die eigentlich auf der Hand liegen, sich aber offenbar vorher nicht ergeben haben.
k: Unter all den Dingen und Ungerechtigkeiten, die besser werden könnten und müssten auf der Welt, was wäre für Sie die wichtigste Veränderung?
Rau: Ich habe neulich bei der Nobelpreisvergabe für Physik wieder gesehen, wie die Geschlechterparität bei der Vergabe von Nobelpreisen grundsätzlich nach wie vor aussieht; da ist das Verhältnis oft 1 zu 100. Ähnlich wie bei Rassismus gibt es keine logische Erklärung dafür. Wenn man ohne eine Milliarde Debatten zu führen einfach auf einen Schnitt sagen würde, es ist strukturell im Kapitalismus nicht mehr nötig, Frauen und Schwarze noch mehr herabzuwürdigen, als sowieso schon der Mensch oft herabgewürdigt wird, wir müssen der Würdelosigkeit nicht noch ein Siegertreppchen bauen – dann wäre Solidarität einfacher und das System käme schnell zu Fall. Dann würde man dem Paradies auf Erden schon recht nahekommen.
| Sarah Caliciotti
Zu sehen sein wird der Film am Freitag, den 8.10. (17:25 Uhr im Cinematograph) und am Samstag, den 9.10. (11:00 Uhr im Leokino).