PHILO*CAFÉ | Über das Wahrsprechen mit Richard Weiskopf

Wahrheit ist wohlmöglich die zentrale Kategorie der Philosophie. Seit Jahrtausenden schickt sie die kritischen Gemüter auf ihre Suche. Nach einer geläufigen Definition ist sie die Übereinstimmung einer Aussage mit einem Sachverhalt, der Realität, aber schon diese vermeintlich einfache Bestimmung wurde im Lauf der Philosophiegeschichte oftmals in Frage gestellt. Wahrheit kennt viele Qualitäten und Quantitäten, die in den unterschiedlichsten Floskeln zum Ausdruck kommen: ganze, halbe, reine, volle Wahrheit; traurige, bittere, unangenehme, nackte Wahrheit; endgültige, letzte, vollkommene, unzweifelhafte Wahrheit… In Wahrheit ist die Wahrheit stumm. Sie bedarf eines Mediums, der Sprache, um gesehen und gehört, sichtbar und verstanden zu werden.

Screenshot, Philosophisches Café mit Richard Weiskopf

Am 25. November 2021 widmete sich Richard Weiskopf vom Institut für Organisation und Lernen der Universität Innsbruck im Rahmen des coronabedingt online abgehaltenen Philosophischen Cafés der Wahrheit aus einer ungewohnten Perspektive: Er untersuchte nicht die Wahrheit als theoretisches Problem, sondern fragte nach einer Praxis des Wahrsprechens, die in der griechischen Antike parrhesia genannt wurde. Sein Vortrag mit dem Titel „Organisation und die Kritik des Wahrsprechens (parrhesia)“ erörterte die Komplexität und Problematik des Wahrsprechens in modernen Institutionen. Was bedeutet Wahrsprechen eigentlich? Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit das Wahrsprechen gelingen kann? Wer kann wie und inwiefern die Wahrheit sagen? Welche heiklen bis fatalen Konsequenzen kann das Wahrsprechen haben, und wie können Individuen und Institutionen damit umgehen? 

Parrhesia ist ein komplexes Wort. Etymologisch bedeutet hesia zunächst nur so viel wie „alles sagen“. Darunter kann sowohl ein „ungeschminktes“ Die-Wahrheit-sagen als auch bloßes Geschwätz und beliebiges Gerede verstanden werden. Mithilfe der Überlegungen von Michel Foucault, der sich in seinen Vorlesungen in den 1980er Jahren dem Thema des Wahrsprechens ausführlich widmete, versteht Weiskopf die parrhesia als kritische Praxis, die politische, ethische und epistemologische Probleme aufwirft. So können Akte des Wahrsprechens, wie Weiskopf argumentiert, normativen Ordnungen zu einer Transformation verhelfen, indem die Grenzen des gegebenen Wahrheitsregimes sichtbar gemacht und etablierte Wissensformen aufgebrochen werden. Darüber hinaus verweist Weiskopf mit Judith Butler auf den Umstand, dass eine Vertreibung und Sanktionierung des Wahrsprechens in modernen Organisationen stattfindet. Kurz gesagt: In Wahrheit ist das Wahrsprechen genuin gefährdet. Regulative Mechanismen in Institutionen und Organisationen sorgen dafür, dass das Wahre unausgesprochen und im Dunkeln bleibt. Zeitgenössische Praktiken des Whistleblowing lassen sich, so Weiskopf, als Widerstand gegen ebensolche Regularien und Sanktionen verstehen.

Screenshot, Philosophisches Café mit Richard Weiskopf

Ein wichtiges Kennzeichen der parrhesia ist dabei, dass der:die Wahrsprecher:in sich im Akt des (Wahr-)Sprechens als Subjekt konstituiert und sich damit gleichzeitig verletzbar macht. Die parrhesia macht dadurch auch einen performativen Widerspruch sicht- und hörbar: Von „unteren“ Angehörigen arbeitsteiliger Organisationen wird schlicht nicht erwartet, dass sie sich gegen diese stellen könnten, zu groß scheint die Abhängigkeit und die Einschüchterung bei Missliebigkeit und Fehlverhalten zu sein. Dabei zeigen Whistleblower:innen wie Edward Snowden oder Chelsea Manning, dass eine kritische Öffnung von Wahrheitsregimen möglich ist. Dies bedarf jedoch einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, wie Weiskopf argumentiert, die den Whistleblower:innen ein Medium, ja eine Bühne zur Inszenierung der Wahrheit bereitstellt. Whistleblowing bedarf der medialen Vermittlung, um Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und kritische Resonanz zu erzeugen. Das durchaus ambivalente Phänomen des Whistleblowing zeigt den kollektiven Prozess und die kommunikative Infrastruktur, die mitunter eine prekäre, aber notwendige Voraussetzung der parrhesia bilden. Doch jene Prekarisierung ist eine doppelte: Zum einen betrifft sie die wahrsprechende Person selbst, die sich im Akt des Wahrsprechens in und durch die Öffentlichkeit angreifbar macht; zum anderen ermöglicht erst das Wahrsprechen ein kritisches Moment der Öffnung und Verletzbarkeit der Institutionen und entzieht sich gleichsam ihrer restriktiven Gouvermentalisierung.

In der an Weiskopfs Vortrag anschließenden Diskussion standen Fragen nach dem Zusammenhang von Wahrhaftigkeit, Moral und Politik im Zentrum. So zeigt sich mit Blick auf die aktuelle politische Gemengelage, dass sich heute gerade Rechtsextreme, obskurantistische Gruppierungen und Verschwörungstheoretiker:innen als vermeintlich kritische Wahrsprecher:innen inszenieren. Damit stellt sich die Frage nach den Kriterien, an denen sich ein ‚echtes‘ Wahrsprechen erkennen lässt. Dabei ist der ethische Aspekt des Wahrsprechens wohl seine größte Stärke wie Schwäche: Die individuelle Moral der wahrsprechenden Person erscheint oft als die treibende Kraft, die sie zum Wahrsprechen erst ermutigt und bemächtigt. In diesem Zusammenhang wurde auch diskutiert, was die Wahrhaftigkeit als epistemische Tugend überhaupt mit Moral zu tun habe. Denn inwiefern ist es relevant, ob eine Person moralisch gut oder schlecht ist, wenn diese die Wahrheit spricht? Moral fungiert schließlich auch als Argument, das den Wahrsprecher:innen Authentizität und Glaubwürdigkeit zuschreibt und sie in ihrer Autorität des Wahrsprechens durch die Attestierung der Hörer:innen erst bestätigt.

Unter dem Eindruck von Weiskopfs Ausführungen wird deutlich, welch komplexes Unterfangen das Wahrsprechen ist, und wie groß seine Relevanz und Tragweite für moderne Organisationen und Gesellschaften sind. Abschließend gilt es noch eine Frage aus dem Auditorium aufzugreifen, die so grundlegend wie tiefgreifend ist: Inwiefern ist das Wahrsprechen über Wahrheit definiert? Dies führt uns an den Beginn dieser Überlegungen zurück, insofern Wahrheit zu ihrer Sicht- und Hörbarkeit das Medium der Sprache benötigt. Das griechische Wort aletheia bedeutet Wahrheit und ist vielleicht die große Schwester der parrhesiaAletheia, verstanden als das Unverborgene, bedarf womöglich der parrhesia, die die Wahrheit allererst ans Licht und zur Sprache bringt. Denn in Wahrheit wird das Wahre nur gesprochen.

| Yvonne Pallhuber


KURZBIOS

Richard Weiskopf

ist Professor für Organisationstheorie am Institut für Organisation und Lernen der Universität Innsbruck. Er hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Innsbruck studiert. Von 1996-1998 war er Research Fellow an der University of Manchester, daraufhin folgten Gastaufenthalte an der University of Sydney (2008) und der Copenhagen Business School (2012). In Lehre und Forschung befasst er sich eingehend mit Organisationsstudien, Unternehmenskommunikation und Governance sowie Organisationsethik und Wissenschaftsphilosophie. 

Yvonne Pallhuber

studiert Geschichte und Philosophie an der Universität Innsbruck. Sie ist studentische Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie am Institut für Philosophie. Angestoßen durch die Überlegungen von Richard Weiskopf beim Philosophischen Café lernt sie neuerdings die Sprache des Wahrsprechens – mit mehr oder minder großem Erfolg.

philocafe.at

Das Philosophische Café Innsbruck ist eine Institution an der Schnittstelle von akademischer Philosophie und Öffentlichkeit. Viermal pro Semester werden Vorträge zu unterschiedlichen Themen und Fragestellungen gehalten, die an aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Auseinandersetzungen anschließen. Im Zentrum stehen die gemeinsame Diskussion und der Austausch zu philosophischen Problemen sowie der Anspruch, philosophische Überlegungen in einer klaren, für ein breites Publikum nachvollziehbaren Weise zu präsentieren und zu erörtern.

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