PHILO*CAFÉ | Anna Wieder lotet das Verhältnis von Demokratie und Widerstand aus

Protestcamps, Besetzungen, ziviler Ungehorsam, Demonstrationen und Gegendemonstrationen: all das gehört zum Leben in einer demokratischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu autoritären Regimen erkennt man die Demokratie u.a. daran, dass sie politischen Widerstand nicht gänzlich unterdrückt, sondern innerhalb gewisser Grenzen zulässt, ja sogar befördert. Wo diese Grenzen genau verlaufen und aufgrund welcher Kriterien sie gezogen werden sollten, ist aber eine ebenso aktuelle wie schwierige Frage, der die Wiener Philosophin Anna Wieder im Philosophischen Café vom 16.12. nachgegangen ist. 

Bild: Brigitte Egger

In ihrem Vortrag hat Wieder zunächst eindringlich herausgearbeitet, wie spannungsreich das Verhältnis der Demokratie zum politischen Widerstand ist. So hat die Demokratie einerseits eine gewisse Affinität zum Widerstand, andererseits kann Widerstand für die Demokratie aber auch bedrohlich sein. Nicht jede Widerstandshandlung ist schließlich demokratisch oder verfolgt demokratische Ziele. Man denke nur an die gewaltsamen Capitol Riots in den USA, die sich dieser Tage zum ersten Mal jähren, oder an die Corona-Demonstrationen in Wien und anderen österreichischen Städten, die regelmäßig von bekennenden Neonazis und Vertreter:innen der rechtsextremen Identitären Bewegung angeführt und vom Verfassungsschutz als eine der größten gegenwärtigen Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaats eingestuft wurden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Widerstand zwei Ansprüche an eine demokratische Ordnung stellt, die sich in die Quere kommen können – die Demokratie muss nämlich zugleich radikal und wehrhaft sein: radikal, indem sie Spielräume des Widerstands zulässt; wehrhaft, indem sie sich gegen antidemokratische Kräfte durchsetzt und behauptet.

Allerdings ist, wie Wieder aufgezeigt hat, die Sachlage noch einmal komplizierter. Denn auch antidemokratische politische Bewegungen inszenieren sich selbst und ihren politischen Widerstand heute in demokratischen Begriffen und mithilfe demokratischer Rhetorik. So stellten sich die Trumpisten, die das Kapitol stürmten, als Speerspitze des wahren Volkes dar, das aufgerufen war, die Demokratie – also die Herrschaft ebendiesen Volkes – gegen die vermeintlichen Wahlfälschungen der liberalen Elite und die manipulativen Machenschaften des Deep State zu verteidigen. Und die Identitäre Bewegung führte die letzten Corona-Demos in Wien dezidiert unter den Bannern „Demokratischer Widerstand“ und „Der Freiheit eine Gasse“ an. An solchen Beispielen wird zunächst einmal deutlich, dass die Akzeptanz von Widerstand in der Öffentlichkeit stark davon abhängt, ob er als demokratisch durchgeht. Umgekehrt wird immer wieder versucht, progressiven Protest dadurch zu untergraben, dass man ihn als antidemokratisch hinstellt. So hat kürzlich der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig die Aktivist:innen, die gegen den Bau des Lobautunnels protestieren, immer wieder als gutsituierte, radikale Minderheit bezeichnet, die der Mehrheit auf der Nase herumtanze – und als deren Protestcamp von unbekannten Brandstiftern angezündet wurde, fiel ihm, anstatt den Brandanschlag scharf zu verurteilen, nichts Besseres ein, als darauf hinzuweisen, dass es doch nichts Gutes sein könne, wenn es in einer Stadt einen „rechtsfreien Raum“ gebe. 

Um diese schwierige Gemengelage besser zu verstehen, zeichnete Wieder drei theoretische Perspektiven auf das Verhältnis von Widerstand und Demokratie nach:

(1) die liberal-konstitutionelle Perspektive,
(2) die republikanisch-agonale Perspektive und
(3) die radikaldemokratisch-performative Perspektive.

Dabei handelt es sich um Strömungen und Schulen der politischen Philosophie. Diese legen unterschiedliche Kriterien und Maßstäbe an, um den demokratischen Charakter von Widerstandshandlungen zu bewerten. Liberale wie etwa der Philosoph John Rawls verstehen demokratischen Widerstand in erster Linie als zivilen Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam zeichnet sich dadurch aus, dass die, die ihn verüben, zwar das Gesetz brechen, aber dabei gewaltlos vorgehen und den übergreifenden Rahmen der Verfassung anerkennen. Wer zivilen Ungehorsam übt, möchte also grundlegende verfassungsmäßig verbriefte Rechte einklagen. Ungehorsam ist aus dieser Sicht das letzte Mittel demokratischen Handelns. Die entscheidenden Kriterien, um Widerstandshandlungen zu bewerten, sind aus liberaler Sicht also Gewaltlosigkeit und die Sorge um fundamentale Grundrechte.

Aus republikanischer Perspektive greift diese liberale Sicht auf Widerstand zu kurz. Denn der Liberalismus versteht Freiheit, wie etwa Hannah Arendt geltend macht, zu individualistisch. Anstatt nur individuelle Freiheitsrechte einzuklagen, ist das Entscheidende am Widerstand aus republikanischer Warte gerade die Erfahrung kollektiven politischen Handelns und der Versuch, gleiche politische Teilhabe zu erkämpfen. Widerstand braucht es demnach, so Wieder, um gemeinschaftliche politische Selbstbestimmung zu verwirklichen. Widerständige Praxis ist eine Erfahrung kollektiver Freiheit: Im demokratischen Widerstandshandeln wird die Macht des Volkes ausgeübt. Hier ist Widerstand also nicht nur das äußerste Mittel wie in liberalen Ansätzen, sondern ein wichtiger Bestandteil demokratischer Prozesse. Als Beispiel nannte Wieder in diesem Zusammenhang die neuseeländische Corona-Politik: Anstatt in der Notlage nationale Einheit zu beschwören und die Exekutivgewalt der Regierung zu stärken, räumte die neuseeländische Regierung unter Premierministerin Jacinda Ardern der Opposition ein hohes Maß an Kontroll- und Einspruchsrechten ein. Gerade in einer Krise braucht es aus dieser Sicht nicht weniger, sondern mehr Möglichkeiten für Kritik und Dissens.

Die dritte, radikaldemokratisch-performative Perspektive auf Widerstand wird von Autor:innen wie Chantal Mouffe, Jacques Rancière und Judith Butler vertreten. Hier geht es um eine kritische Analyse der widerständigen Praktiken selbst. Denn radikaldemokratische Ansätze weisen darauf hin, dass demokratische Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung nicht einfach vorausgesetzt werden können, sondern stets aufs Neue auf dem Spiel stehen. Im politischen Streit geht es aus dieser Sicht also nie nur um bestimmte Sachfragen, sondern immer auch darum, wer überhaupt als politische Akteur:in gelten kann, wessen Stimme Gehör findet und welche Rede Aufmerksamkeit bekommt. Widerstand hat immer auch damit zu tun, die Grenzen des Sichtbaren, des Hörbaren und des Sagbaren zu verschieben, zu untergraben oder neu zu ziehen. 

Fruchtbar ist diese dritte Perspektive aus Wieders Sicht nicht zuletzt, um die aktuellen Umwelt- und Klimaprotestbewegungen zu verstehen. Aus liberaler oder republikanischer Sicht könnte man meinen, dass es dabei vor allem darum geht, nachhaltigere Klimapolitiken durchzusetzen. Das stimmt zwar, ist aber, so Wieder, nur die halbe Wahrheit. Aus radikaldemokratischer Sicht zeigt sich nämlich, dass in den Klimabewegungen ganz grundsätzlich das Selbst der demokratischen Selbstbestimmung neu gefasst wird. Denn die Politik der Klimabewegungen besteht nicht zuletzt darin, ganz neue politische Akteur:innen in den politischen Raum zu bringen, die bislang überhaupt nicht als Teilnehmer:innen politischer Auseinandersetzungen wahrgenommen worden sind oder anerkannt wurden: von Kindern und Jugendlichen über indigene Völker bis hin zu zukünftigen Generationen, ja sogar zu nicht-menschlichen Entitäten wie bedrohten Biosystemen.

In der Diskussion im Anschluss an Wieders Vortrag wurde u.a. die Frage diskutiert, ob und inwiefern die drei genannten Perspektiven – die liberale, die republikanische und die radikaldemokratische – im Widerspruch zueinander stehen oder sich ergänzen bzw. auf unterschiedlichen Ebenen operieren. Wieder hat in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die politische Realität sich gerade dadurch auszeichnet, dass sich normative Fragen nicht scharf von den politischen Praktiken und den Problemen politischer Handlungsfähigkeit trennen lassen. So wird etwa ein individualistisches Verständnis politischer Akteurschaft der Realität politischen Handelns und der Prekarität widerständiger politischer Subjektivität nicht gerecht. Gerade um die Widerstandsbewegungen unserer Tage zu verstehen, braucht es, so Wieder, eine Perspektive, die die Praktiken politischer Subjektwerdung – eben das Selbst der politischen Selbstbestimmung – ins Zentrum stellt.

| Sergej Seitz


KURZBIOS

Sergej Seitz 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.

Anna Wieder 

lehrt Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

Das nächste Philosophische Café findet am 20.01.22 mit Jonas Pfister zum Thema „Kritisches Denken“ über Zoom statt.

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