Mein aktueller Arbeitsplatz: vor mir der Bildschirm meines Laptops, auf dem ich gerade einen Kulturförderantrag für den „Stabilisation Fund for Culture and Education“ des Goethe Institut Korrektur lese, aus den Lautsprechern hinter mir ertönen disharmonische Sounds elektronischer Improvisationsmusik vermischt mit Samples aus traditionellen Kafana-Liedern. Die Geräuschkulisse wird gerade live von den beiden Musiker:innen Billy Roisz und László Lenkes komponiert. Neben ihnen sitzt mein Kollege Zsolt, der für das Sounddesign zuständig ist und die improvisierte Live-Session für eine CD-Publikation aufzeichnet. Im Raum neben mir arbeiten Zoran und Borka an ihren Computern, ebenso begleitet vom zuweilen sehr lauten und unrhythmischen Sound, der die Konzentration der beiden aber nicht zu stören scheint – immerhin ist das für sie nicht gerade eine ungewöhnliche Arbeitsatmosphäre, experimentelle und fordernde Musik läuft in diesem Büro ständig im Hintergrund. Auch ich bin dabei, mich daran zu gewöhnen.

Mein aktueller Arbeitsplatz befindet sich in Novi Sad, präziser: in den Räumlichkeiten der Organisation kuda.org. Novi Sad führt, nebenbei bemerkt, 2022 den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt (was in Serbien weitgehend als Ironie belächelt wird). Der Grund meines Aufenthalts ist allerdings ein anderer: Im Rahmen des BMKÖS-Auslandsstipendium für Kulturmanagement werde ich die kommenden drei Monate vor Ort sein und von hier aus vermutlich noch öfters für Tirol berichten, denn kulturelles Geschehen macht nicht vor geopolitischen Grenzen halt – wurde in der ersten Woche meines Aufenthalts bereits bestätigt.
Die experimentelle Künstlerin Billy Roisz ist aus Wien angereist. Bei ihrer Ankunft im Büro wird erstmal Pita für Alle serviert – in vier unterschiedlichen Varianten (mit Kartoffel, Zucchini, Spinat und klassisch mit Käse), dazu ein Glas Joghurt, süße Weintrauben. Und dann wird Kaffee getrunken. Billy ist zum ersten Mal in Novi Sad, am Essens-/Arbeitstisch werden aber gleich erste Verbindungslinien festgestellt: Ihr Name sei ungarisch, erklärt sie, wie jener von Zsolt. Was die serbische Region Vojvodina nämlich mit Österreich verbindet, ist ihre ehemalige Zugehörigkeit zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich. So verwundert es auch nicht, dass die Architektur einiger Gebäude im Stadtzentrum von Novi Sads sowie dessen Atmosphäre etwa Assoziationen zu Graz aufwerfen, sogar den Uhrturm teilen sich die Städte als Wahrzeichen.
Aber es gibt noch andere Verbindungen: Billy erzählt mir von ihren mehrmaligen Auftritten beim Innsbrucker Heart of Noise Festival und ihrer Bekanntschaft mit dem Innsbrucker Musiker Andi Stecher, auf dessen Einladung sie mal im Leokino-Cinematograph performt habe. Nach Novi Sad wurde sie schließlich im Kontext des Projekts NOISM von kuda.org geholt.
We want to enable new levels of music production. This goal is not only artistic but also has a social dimension, because, through this process of creating music, the hierarchy in music production and performance is questioned, erasing the boundaries between the roles of composer and performer. It is dedicated to temporary zones of groupness and improvisational practice that arises in sound, with sound and around sound. (kuda.org)

Die Improvisations-Sessions zwischen Billy Roisz und László Lenkes bilden die vierte Edition der NOISM-Reihe. Jeweils zwei experimentelle Musiker:innen werden dabei von kuda.org zusammengebracht, um für ein paar Tage gemeinsam zu improvisieren. Diese Sessions werden live aufgezeichnet und schließlich in komprimierter Fassung publiziert. Außerdem findet jeweils auch eine Live-Performance vor Publikum statt. Mit diesem Projekt zwischen Residency-Artists und lokalen Musiker:innen wird einerseits internationale Zusammenarbeit und künstlerische Produktion gefördert, gleichzeitig aber Improvisation als Methode für das eigene kollektive Arbeiten in der Kulturorganisation erforscht. Im Vordergrund steht für kuda.org nicht das Ergebnis, also die Publikation oder die Live-Performance, sondern eine sorgfältige Beobachtung und Analyse des Kommunikations-Prozesses zwischen den Musiker:innen, die das Kollektiv selbstreflexiv auf die eigene Arbeit überträgt:
„We consider the aspect of careful mutual listening to be crucial to the process of collective work. This aspect is brilliantly manifested in improvised music. In the process of improvisation, communication takes place simultaneously, as well as the creation of a new work. The ability to listen carefully, from which the potential of political organization is defined, is indicated also in the space of joint artistic creation.” (kuda.org)

Der lokale Musiker László Lenkes hat sich Billy Roisz für die Kollaboration ausgesucht „einerseits, weil ich schon Live-Performances von Billy gesehen habe und toll finde, was sie macht; anderseits, weil es nur wenig Frauen in der Improvisationsszene gibt, was mehr gefördert werden soll“, erzählt mir László während der Autofahrt zum Abendessen ins Stadtzentrum. Das kuda-Büro (kuda, serbisch für wohin) befindet sich nämlich im etwas außerhalb gelegenen Stadtteil Detelinara. „Die freie Kulturszene hat hier ein massives Problem an Räumlichkeiten“, betont Zoran (kuda.org). Auch das ist Teil der Ironie, so wird zwar Novi Sad einerseits als Europäische Kulturhauptstadt propagiert, zugleich wird die freie Szene aber zunehmend an den Rand und somit in die Existenzkrise gedrängt. Durch Gentrifizierung verliert die freie Szene in Novi Sad sowie auch in der Hauptstadt Belgrad sukzessive an Raum. „Räumlichkeiten und Infrastruktur, die durch die Foundation Novi Sad – European Capital of Culture errichtet wurden, werden nach diesem Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit verfallen, weil es kein Geld, keine Strukturen und keine Initiativen für deren Erhaltung gibt“, bemängelt Zoran. Unabhängige Kunst und Kultur werden in Serbien von nationaler Ebene kaum gefördert. Das NOISM-Programm von kuda.org wird mitunter vom Österreichischen Kulturforum unterstützt. „Das ermöglicht uns, österreichische Musiker:innen nach Novi Sad einzuladen“, sagt Borka.
Zwischendurch bellt Hündin Stella in die Aufnahme, eine Frau mit Kleinkind steht plötzlich im Raum, sie wolle die Bibliothek benutzen, die aber gerade von den beiden Musiker:innen besetzt ist. Billy und László lassen sich dabei nicht von den zusätzlichen Geräuschen ablenken, schmunzeln kurz und improvisieren weiter. Alles, was unkontrolliert passiert, ist willkommen, ist Teil des Prozesses. Improvisation lässt sich bei kuda.org auf allen Ebenen erproben: Sie entsteht hier immerhin auch aus einer alltäglichen Notwendigkeit heraus, um aktivistische Kulturarbeit in irgendeiner Weise am Laufen zu halten.
KURZBIOS
New Media Center_kuda.org
is an independent cultural organization which since 2001 brings together artists, theoreticians, media activists, researchers and the wider public in the research of contemporary art theory and practice, cultural policies, activism and politics. kuda.org tends to make an intervention in the sphere of research and artistic and social experimentation within the field of art and cultural production, from the position of institutional critique and critique of cultural policies. Facing processes of cultural industries and culturalization of politics and art, the collective attempts to map and encourage acts of critique and resistance to comodification of results of art production including attempts of transformation and critique of relations of production which are in the field of art production and outer-art social processes being reproduced through shifts of ideological and „political“ matrixes, which are in the last instance consequence of recuperation of people.
Billy Roisz
lives and works in Vienna/Austria. Her ability to translate experimental music into visual memory images is particularly noteworthy, revealing borrowings from minimal art and conceptual art. She specializes in feedback video and video/sound interaction by using monitors, cameras, video mixingdesks, synchronators, computer, various electronics and a bass guitar for video and sound generating. As a performer Billy Roisz often plays solo, but she also likes working in collaboratives. Her works have been presented at numerous international festivals.
László Lenkes
(b. 1979, Novi Sad) is a guitarist, playing both standard and tabletop guitar in various electro-acoustic improvisational forms. He has been part of the local underground music scene from the beginning of the 2000’s, beside musical improvisations with fellow musicians from the 2010’s, through his literature studies, he has been practising experimental improvisation mixing with other media, namely sound poetry and similar historical avant-garde practices playing together with notable East-Central European avant-garde artists in the genre (e.g. Katalin Ladik, Endre Szkárosi, etc).