Henri Felix Backmund und Silvano D. zeichnen und erzählen in der vorletzten komPOST-Ausgabe dieses Jahres von räumlichen Beobachtungen und Erfahrungen, von Nähe und Distanz, von zwischenmenschlichen Beziehungen…
Zeichnungen
Silvano D., 2022



Crescendo
Henri Felix Backmund, 2022
Wäre das Leben des Sohnes tatsächlich eine Bühne,
so könnte der Theatertext mit den folgenden Worten losgehen.
Die Finger des alten Mannes krallen sich in den Lenker. Er nimmt Anlauf, stößt sich ab und der grellgrüne E-Scooter nimmt Fahrt auf. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen durch die riesigen Fenster des Bahnhofs. Mit ein paar Metern Abstand treibt er einen jungen Mann vor sich her durch die Bahnhofshalle und fährt gerade so schnell, dass dieser nicht joggen muss.
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Im Stechschritt läuft der Sohn vorweg durch den Bahnhof und liest leise von einem Blatt Papier vor. Das Flüstern ist kaum lauter als seine Schritte. Er läuft auf Socken, weshalb nur das elektrische Surren und Klappern des Scooters von den Wänden der menschenleeren Gänge hörbar widerhallt. Die Worte sind an seinen Vater gerichtet, den Mann, der scheinbar nichtsahnend auf dem Scooter steht.
Mit der hereinbrechenden Dämmerung werden die Worte des Sohnes lauter. Sie schlagen vor ihm in die Dunkelheit der endlosen Tunnel ein, aber der Vater scheint ihn nicht hören zu können. Sie sind einander räumlich so nah, aber sie dringen nicht zu ihm durch.
Das Blatt Papier braucht der Sohn inzwischen nicht mehr. Er redet ununterbrochen, in Rage, schreit den Vater und die Nacht an. Bei dem Versuch sich umzudrehen, gerät er ins Stolpern. Ein verheißungsvolles Knacken – Die automatischen Scheinwerfer des Scooters gehen an. In dieser Sekunde setzt sich die Kontur des strauchelnden Sohnes klar von der Dunkelheit ab. Der Vater weiß, dass die Worte an ihn gerichtet sind. Es tut ihm weh. Es tut ihnen beiden weh. Aber am brutalsten für sie ist, dass ausschließlich der Sohn spricht.
Der Vater will erklären. Sich und seine Lebensgeschichte. Doch das wird ihm nicht erlaubt. Die Erklärung, die sich der Sohn ersehnt, wird er nie bekommen.



Kurzbios
Silvano D.
Imagination advocate apprentice, in Wien.
Henri Felix Backmund
lebt und schreibt in Berlin. Der Autor mit volkswirtschaftlichem Bildungshintergrund durfte bereits zahlreiche Kurzgeschichten und Schreibexperimente in unterschiedlichen Kulturmagazinen und Anthologien veröffentlichen. Sein kreatives Schaffen ist stets bemüht unsichtbare Dynamiken und Gesellschaftsmuster sichtbar zu machen. So sind die harmonische Familie, sowie die Absurdität der Arbeitswelt gängige Themen in seinen Werken.