Vorige Woche, am internationalen Sarajevo Filmfestival, präsentierte Laura Weissenberger ihr Kurzfilmdebut ERDE ESSEN (AUT, 2021, 25min). Wir sind auf den Film der 26 Jahre jungen Regisseurin aufmerksam geworden, weil er das medial präsente Thema Flucht und Migration in einen etwas anderen Kontext stellt, dennoch aber einen Bogen zu vielen individuellen Schicksalen spannt.

Eingebettet in eine sommerlich-warme Gartenidylle, umgeben vom Geräusch zirpender Insekten, badet eine Frau mittleren Alters in einem mit kristallklarem Wasser gefüllten Planschbecken. Wir sehen ihren Paddel-Bewegungen ein paar Sekunden zu, bis sie anfängt, währenddessen einen Auszug ihrer Biographie zu erzählen, es ist die Geschichte ihrer gescheiterten Einwanderung aus Kolumbien nach Europa in den 90er Jahren:
„The plane from Bogotá made a stop in Frankfurt. At the airport, when I showed my passport and when they saw my nationality – I wasn’t the only one… All Columbians…, they put us in a separate queue. They examined us. They took me aside, they examined me. They searched all belongings, my bag. I had to undress myself. In the night they informed us that we couldn’t continue our travels to Austria. After two or three days they sent us back to Bogotá. We had to stay at the airport in Frankfurt for those three days. There was a girl who told me everything she had to do to be able to travel. She started to cry. Then we both started to cry. That journey was life-changing for me.”
– Zitat aus dem Film
(sozio-politischer) KONTEXT
Die Regisseurin verarbeitet dabei einen Teil ihrer eigenen Biografie in der filmischen Erzählung. Im Alter von zweieinhalb Jahren immigrierte Laura Weissenberger mit ihrer Mutter von Facatativá nach Wien. Es war die Zeit, in der die Narcos rund um Pablo Escobar das Land regierten. „Damals war es tatsächlich gefährlich, in Kolumbien zu leben. Einige Menschen versuchten auszureisen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr sicher waren, so auch meine Mutter“, schildert Laura, „es war aber sehr schwierig für Kolumbianer*innen, nach Europa auszuwandern. Am Flughafen wurde man sofort stigmatisiert als jemand, der hier nur bessere Arbeit finden oder Drogen verkaufen will“. Trotz Lebensgefahr im Herkunftsland schien ein legitimer Fluchtgrund für die deutschen und österreichischen Behörden oft nicht gegeben.
Laura vermittelt diesen Aspekt der Geschichte in ihrem Film. Ihr künstlerischer Ansatz orientiert sich aber weniger an der faktischen Realität der Ereignisse als an ihren eigenen subjektiv-träumerischen Erinnerungen.
(magisch-realistische) ÄSTHETIK
Inspiriert vom Roman 100 Jahre Einsamkeit des wohl global bekanntesten kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez greift sie das Motiv des Erde Essens auf, das wiederkehrend in den Filmszenen auftaucht. „Erde beziehungsweise Erdung steht für mich in Verbindung mit Verwurzelung, das Erde Essen mit der Suche nach den eigenen Wurzeln“. In ihrem Kurzfilm begibt sie sich selbst auf die Reise – nicht nur nach Kolumbien, sondern vor allem in ihre eigenen Erinnerungen, die sie an ihren Geburtsort hat.
„Die meisten Erinnerungen kommen aus den Fotos und aus den Geschichten, die mir erzählt wurden. Die sind aber so lebendig in meinem Kopf, dass es sich anfühlt, als ob ich genau wüsste, was passiert ist. Der Film ist ein Versuch, einen Erinnerungsort zu gestalten, das Gefühl einzufangen, das in mir aufkommt, wenn ich an Kolumbien denke – auch wenn das dann letzten Endes nur ein Nicht-Ort ist, eine Art Utopie“.
Ihr Werk zeugt dadurch von einer magisch-realistischen Atmosphäre. Ein Gewebe von surrealen Bildern und dokumentarisch anmutenden Szenen.
An Márquez erinnert aber auch der Effekt des Sich-Verlierens, den der Film hervorruft. Auch nach wiederholtem Ansehen bekommt man kein klares Bild davon, wie die einzelnen Figuren zueinanderstehen, welche Geschichten sie verbinden, wer wessen Tochter, Mutter, Vater, Bruder oder Schwester ist… „So ging es mir auch beim Lesen von Márquez, dass ich durchwegs den Faden verloren habe. Ich verbinde das mit der Eigenschaft des kollektiven Gedächtnisses, also, dass es im Grunde egal ist, wie sich die Relationen zueinander verhalten – es geht mehr um ein größeres Muster. Dieses Gefühl wollte ich evozieren.“
(persönlicher) ZUGANG

Neben dem Motiv des Erde Essens taucht wiederkehrend eine junge, in weiß gekleidete, Frau auf. Bei unserem Gespräch stelle ich Laura die Frage, was es mit dem Hochzeitskleid auf sich habe und erfahre, dass es eigentlich ein Kommunionsgewand ist. „Ich bin gar nicht religiös aufgewachsen. Als ich zum ersten Mal eine Kommunionsfest gesehen habe, schien es für mich als wären es Kinder in Hochzeitskleidern, total absurd. Bei meinem Besuch in kolumbianischen Häusern ist mir dann aufgefallen, dass dort an den Wänden meist Hochzeitsbilder neben den Fotos von den Kindern in Kommunikationskleidern hängen“. Diese Verwirrung zwischen Hochzeit und Kommunion spielt dabei auch auf die patriarchale Gesellschaft im stark katholisch geprägten Kolumbien an, eine Religion, die der indigenen Bevölkerung wiederum von europäischen Kolonisatoren aufgezwungen wurde und bis heute erheblichen Einfluss auf die dortige Kultur nimmt.
So viele Themen auch in ERDE ESSEN verwoben sind – letztendlich stellt das Projekt für Laura selbst ihre persönliche Suche nach der eigenen Heimat, den eigenen Wurzeln dar. Mit dem Film schafft sie sich selbst ihren persönlichen Erinnerungsort.
„Meine Familie in Kolumbien habe ich erst durch das Filmprojekt kennengelernt. Das Ganze war für mich wohl auch eine Art Vorwand, auf diese Weise in Kontakt mit den Leuten dort zu treten – die Kamera diente dabei sozusagen als mein Schutzschild.“
so Laura, die sich äußerst positiv an die bereichernde Zeit des Filmdrehs zurückerinnert. „Vor allem die Tatsache, dass wir nur zu dritt in einem rein weiblichen Team arbeiteten (zusammen mit Sofia Wiegele und Marie Sturminger), war für mich die allerschönste Erfahrung. Die Art und Weise, wie sensibel meine Kolleginnen an das Projekt und die Menschen herangetreten sind – wir hatten eine sehr vertraute Atmosphäre und ein gutes Gespür für die richtigen Momente, in denen gefilmt werden sollte.“
Laura Weissenberger erzählt mit ERDE ESSEN ihre ganz persönliche Geschichte und spricht dabei für viele. Das Gefühl einer Identität, die irgendwo im Dazwischen liegt und keinen physischen Ort als die eine Heimat bezeichnen kann. Ein Gefühl, das aktuell einige – und in Zukunft vermutlich immer mehr Menschen – miteinander teilen.
| Brigit Egger
KURZBIO

Sarajevo Filmfestival, 2021
Laura Weissenberger
wurde 1995 in Facatativá, Kolumbien geboren und lebt in Niederösterreich und Köln. Seit 2013 ist sie tätig im Theater- und Filmbereich. Im Oktober 2019 schloss sie ihr Szenografie Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Anna Viebrock ab.