Den Abschluss der philosophischen Essay-Reihe *Staying with the Trouble markiert Michelle Riedl mit ihrem Text Back to Wonderland. In Anknüpfung an die Geschichte um Alice findet darin eine kreative Auseinandersetzung mit der Verletzbarkeit der Erde statt.
Die Natur, Tiere & Wesen der Welt erkennen, fühlen, versuchen, mit ihnen Symbiose herzustellen, wie Alice im Wunderland

Alice ist ganz verwirrt, neugierig, als sie den Hasen sieht, der ständig auf seine Uhr zeigt. So irgendwie, als wolle er sagen, es ist höchste Zeit, sie läuft ihm nach bis zu einem Baum, in dessen Loch er sich versteckt. Von der Neugier überwältigt, schaut sie hinein, stolpert über die Wurzel und in das Loch des Baumes, fliegt in eine kuriose Welt, die völlig auf dem Kopf steht. Sie kann noch nicht unterscheiden, ob sie schläft, dies alles nur träumt, oder es Wirklichkeit ist, was hier gerade passiert. Ein Land, eingenommen von der roten Königin und ihren Untertanen. Sie haben sich im Land ausgebreitet, Arten ausgerottet und in Gefangenschaft genommen. Alice kann kaum glauben, wo sie hier gelandet ist. Vor ihr tritt eine grinsende Katze in Erscheinung (eine von den Guten), die sich im nächsten Moment aber wieder in Luft auflöst. Eine blaue, rauchende Weise Raupe, die sie ermächtigt, für das Land zu kämpfen. Die Zwillinge, die sich nie einig sind, verwirren sie noch mehr. Ein lustiger Hutmacher, der verrückt zu sein scheint. Der Bandersnatch, eine besondere Kreuzung vom Wolf, erweist der roten Königin seine Dienste, bis er entkommt und für Gerechtigkeit kämpft. Die weiße und gute Königin lebt versteckt, zurückgezogen vor all dem Schlamassel, wartet auf den Rücktritt der roten Königin.
Viele Menschen stellen Alice dar, aufgelöst, entzweit, zurückhaltend, durcheinander, aber motiviert, hoffnungsvoll, voller Harmonie, geboren in die Welt des Kapitaluzäns. Ihre Köpfe unterschiedlich, wie die Charaktere von Alice im Wunderland, mancher Einfall löst sich in Luft auf, vernünftige Gedanken, die ratsam sind, zwiespältige Meinungen, die sich in den Köpfen scheiden, und manch verrückte Idee, die ein gutes Ergebnis erzielt. Die rote Königin in Alice im Wunderland, die Repräsentantin des Kapitaluzäns, die weiße des Chthuluzäns. Das Chthuluzän beschreibt den Ort, in welchem Zeit ist zu lernen.
In diesem Essay verbinde ich das Wunderland und die Geschichte von Alice mit der Erde. Alices Aufgabe ist, eine verdorbene Welt wieder zu etablieren und schöner zu gestalten. So wie Alice sollen Menschen in der zerbrochenen, auseinandergerissenen Welt den Frieden wieder ins Leben rufen. Symbiose heißt das Wort, mit dem unzählige Alices dieser Welt sich durch das Wunderland spinnen, Symbiose als Synonym zu Co-Habitation. Zwischen dem zerstörten, kaputten Planeten mit vielen neuen Leben, vielem Sterben, versuchen die Menschen sich zurechtzufinden. Mit dieser Vielfalt von Charakteren, mit verschiedenen Interessen, Ansichten und Wahrnehmungen, ist es nicht immer leicht, eine goldene Mitte für alle zu finden. Sie können es nicht allen recht machen, und doch sollten sie nach einer Möglichkeit suchen so zu leben, dass das Leben anderer Menschen und Lebewesen auch noch möglich ist. Können sie es schaffen, in einem Verhältnis miteinander zu leben und zu sterben, das Haraway Sympoiesis nennt? Gemeinsam mit anderen Tieren, anderen Lebewesen, Pflanzen, Cyborgs und den modernen technologischen Erfindungen des Menschen?
„Sympoiesis ist ein einfaches Wort. Es heißt mitmachen. […] Es ist ein Wort für Mit-Verweltlichung, Verweltlichung mit GenossInnen. Sympoiesis umfasst Autopoiesis, erlaubt ihre Entfaltung und erweitert sie. […] Symbiose ist kein Synonym von ,zum beiderseitigen Vorteil‘. Die Bandbreite an Namen, die es bräuchte, um die verschiedenartigen vernetzten Muster und Prozesse von situierten und dynamischen Nach- und Vorteilen für die Holobionten/Symbionten zu benennen, tritt gerade erst zutage; […]“
– Donna Haraway, 2018
Seit es Menschen gibt, wird die Erde von ihnen ausgebeutet; Diese Ausbeutung so Haraway, muss ein Ende finden. Sie müssen endlich Verantwortung übernehmen, lautet die Devise der Befürworter*innen. Kaputte Wälder, Regenwälder, Menschen und Kinder in Hungersnot – die Ressourcen, immer weniger – verbrannte Gebiete, ausgeraubte Länder, vergiftete Felder, verschmutze Meere sind zu bedauern, jede Menge aussterbende Wesen und Arten.
Die große Unordnung der Erde zwischen Mensch und Tier, Tier und Mensch, Wesen und Lebewesen, Cyborgs und Maschinen muss rekonfiguriert werden, sie müssen sich einfühlen, zurechtfinden, retten, was zu retten ist, gemeinsam mit aller Vielfalt dieser Welt. Sie sollten den Hozho wiederherstellen, der einst verloren ging im Paradies.
„[…] Hozho ist ein zentrales Konzept […] der alltäglichen Praktiken. Übliche Übersetzungen sind Schönheit, Harmonie und Ordnung; ich denke, eine treffendere Übersetzung würde die richtigen Beziehungen in der Welt hervorheben, einschließlich der Beziehungen menschlicher und nicht-menschlicher Wesen, die von der Welt sind, als ihre sagenumwobene und kraftvolle Substanz, und nicht in der Welt als Container […].“
– Donna Haraway, 2018
Wie Alice, verloren im Wunderland, müssen sie überlegen, sich etwas einfallen lassen, sie müssen sich bemühen, zuerst aber müssen sie diese Welt verstehen, die Vielfalt der Wesen, sie müssen sie fühlen lernen, akzeptieren, mit allen ihren schönen und hässlichen Seiten, wie schon seit Urzeiten, gemeinsam und in Symbiose auf dieser Erde zu leben.

Wiederansiedlung alter Symbionten
Im Kapitalozän, das von der roten Königin regiert wird, kämpfen Symbionten sich zurück in die Freiheit und machen sich auf den Weg in das Zeitalter des Chthuluzäns. Das schon im 19. Jahrhundert in Westeuropa ausgerottete Tier, das oft gefürchtet wird, aber auch wie eine Legende in Sagen und Märchen gepriesen wird, kehrt in unser Land zurück. Der Wolf, ein prächtiges graubraunes Tier, steht unter Naturschutz. Als Jäger und gleichzeitig Gejagter lässt er sich dank seiner ausgesprochen hohen Anpassungsfähigkeit wieder in verschiedenen Regionen Europas nieder. Er ist ein Rudeltier, bestehend aus dem Elternpaar und dessen Welpen. Seit ein paar Jahren wird er von den Naturschützen begrüßt und aufgenommen.
Wolfsexperten*innen versuchen, den schlechten Ruf des Wolfes aufzuklären und wirbeln die Thematik für eine artgerechte Symbiose auf. Sie überwachen ihn, füttern ihn mit Nutztierkadaver, so kann die Fährte aufgenommen werden, um den Wolf mit seiner Familie vor Wilderei zu schützen. Zeitgleich demonstrieren und klagen die wütende Landwirt*innen von verängstigtem Vieh bis hin zu schwerverletzten oder manchmal auch gerissenen Nutztieren. Denn auch, wenn seitens des Landes Zäune, Hirtenhunde und ähnliche Schutzmaßnahmen gefördert werden, kann ein vom Wolf verschrecktes Tier zum Absturz kommen und getötet werden. Es ist sicher nicht leicht, sich mit diesen Ambivalenzen in der Politik auseinanderzusetzen, und doch wird früher oder später eine Lösung von Naturschützer*innen als auch und Landwirt*innen verlangt. Es gab eine Zeit, in der Wölfe hier beheimatet waren und ihr Lebensraum groß genug war, sodass sie genug Nahrung hatten. Als ihr Lebensraum und somit auch ihre Beute zerstört wurden, gingen die Zahlen deutlich zurück und die letzten ihrer Art rissen des Menschen Nutztiere, bis dieser sie endgültig ausrottete.
Der Wolf ist nicht das einzige Tier und wird auch nicht das einzige bleiben, das wieder zurückkehrt in unser Land, in diese Welt. Die Menschen sollten sich dazu verpflichtet fühlen, eine Symbiose zwischen Räumlichem, Ökologischem und Sinnlichem herzustellen, sie sollten ihre Ziele neu definieren. Ein neues Miteinander schaffen, eine gelungene Welt, eine im Hozho lebende Gemeinschaft. Menschen, sie sollten sich einander guttun, statt einander Gewalt anzutun. Gegenseitig Lebensraum geben und Liebe schenken. Sich einander sein lassen als das Seiende. Gemeinsam statt einsam. Und sie werden sehen,
„[…] mit der Zeit brauchen sie einander auf vielfältige, leidenschaftliche, körperliche und bedeutungsvolle Art und Weise; sich gegenseitig involvieren in das Leben des anderen.“
– Donna Haraway, 2018

Pflanzliche Symbionten
Nicht nur Tiere, sondern vor allem auch Pflanzen streben in ihrem Leben nach verschiedenen Verbindungen und Co-Habitation. Viele Pflanzenarten können aufgrund von Symbiose besser gedeihen, wie wir es zum Beispiel bei der Orchidee sehen können; diese wird von Mykorrhiza-Pilzen besiedelt. Eine andere Art der Fortpflanzung kommt hier zum Ausdruck: die Pseudokopulation. Keine richtige
sexuelle Vereinigung, und doch dient sie der Fortpflanzung. Vereinfacht würde ein menschliches Wesen dies Bestäubung nennen. Einzigartige und doch in der Welt der Pflanzen und Tierwelt weit verbreitete Art von Symbiose. Beide, Orchidee und Pilz – stehen miteinander in Verbindung, verwirbelt, verstrickt, verwoben in unzählige Arten und Artenvielfalten. Auch in der Welt von Alice wachsen viele verschiedene Pflanzenarten in allen Formen und Größen, als seien sie alle miteinander irgendwie verwandt. Alle Figuren im Wunderland sind stets bemüht, ihre Pflanzen zu pflegen.
„Hast du heute schon mit den Bäumen gesprochen?“ „Ja, Majestät“ „Sie wirken traurig, sei doch morgen etwas netter.“
– weiße Königin mit ihrer Hofmagd – Film: Alice im Wunderland, 2010
Sie nutzten sie als Verschönerung ihrer Gärten und zur Zubereitung von Tee, ähnlich wie einige Wesen auf der Erde. Dass Pflanzen auch auf ihre Umgebung reagieren, ist bereits länger bekannt. So müssen die Menschen sie pflegen und auch sie gut behandeln. Was wäre die Welt doch für ein Wunderland, wenn überall auf den begrünten Flächen essbare Pflanzen wachsen würden, eine unvorstellbare, phänomenale Idee. Eine von der sehr viele profitieren würden. Die menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, Tiere, Pilze, Pflanzen, viele andere und zu guter Letzt die Mit-Welt. Eine glückliche neue Artenvielfalt in der Stadt aufgrund von Nahrungsüberschuss. Kompostierung soweit das Auge reicht, für neues Leben und Sterben. Kompostierung für eine immer wieder erneuerbare biodiverse Stadt, die blüht. Versponnen mit ihren sympoieitischen, wiederauflebenden, verwirbelten Humusismen.
„All die […] haben mich mit dem Posthumanismus unglücklich werden lassen, obwohl vieles, was unter diesem Label entsteht, meine Arbeit bereichert. Mein Partner Rusten Hogness hat Kompost statt Posthuman (ismus) vorgeschlagen sowie Humusismen statt Humanismen; […] ,Composting is so hot‘.“
– Donna Haraway, 2018
| Michelle Riedl
Die Originalversion des Essays (inkl. Literaturverzeichnis) kann hier heruntergeladen werden:
KURZBIOS
Michelle Riedl
studiert Philosophie an der Universität Innsbruck. Ihre angeborene Angewohnheit alles auf der Welt in Frage zu stellen ermöglicht ihr viele verschiedene Perspektiven einzunehmen um mehrere Arten von Wahrnehmungen zu erleben.
Judith Exenberger
1990 in Tirol geboren, lebt in Wien und ist Mitglied des AnAinn-Kollektivs. derzeit in Ausbildung zur Bildhauerin. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Architektur, Plastiken und Assemblagen – mit inhaltlichem Fokus auf Diskrepanzen zwischen Natur und Kultur. Die drei Grafiken sind in Auseinandersetzung mit Bewegungsströmungen im öffentlichen Raum entstanden.