Ausgeschlossenen und marginalisierten Menschen wird das Recht zur politischen Mitsprache verwehrt. Ohne gesellschaftliche Anerkennung ist politisches Handeln nicht möglich, so eine weitverbreitete Auffassung. Doch die Sachlage ist verzwickter, wie Florian Pistrol am 22. Juni im Rahmen des Philosophischen Cafés in der Innsbrucker Kulturbackstube Die Bäckerei aufzeigte. Mit Rückgriff auf Hannah Arendts Figuren des Paria und des Parvenu brachte Pistrol die Unterscheidung zwischen politischer In- und Exklusion ins Wanken.
Hannah Arendt schreibt in ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dass von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen wie beispielsweise Staatenlose, „politisch gesprochen, lebende Leichname“ sind. Pistrol griff diese These auf, um sie zu hinterfragen. Bereits durch ihre Biographie widerspricht Arendt ihrem eigenen Argument, so Pistrol. Arendt wurde als Jüdin von Nazi-Deutschland zur Flucht gedrängt und war in der Folge achtzehn Jahre lang staatenlos. Obwohl de jure rechtlos, war sie politisch aktiv. Sie half beispielsweise jüdischen Flüchtlingen, nach Palästina zu fliehen, oder unterstützte Antifaschist:innen bei Rechtsfragen.

Auch mit Arendts frühen Schriften, konkret mit ihren Überlegungen zu den Figuren des Paria und des Parvenu, kann mit Arendt gegen Arendt gedacht werden, wie Pistrol argumentierte. Mit den Figuren Paria und Parvenu werden zwei verschiedene Formen beschrieben, wie zu Unrecht ausgeschlossene Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft begegnen können: Der Parvenu versucht alles Mögliche, um Teil der bestehenden ungerechten Ordnung zu werden. Dafür ist er bereit, seine eigene Identität zu verbergen. Der Paria hingegen weigert sich, die gesellschaftliche Zuschreibung als vermeintlich minderwertig zu akzeptieren und setzt sich gegen den Ausschluss zur Wehr. Er beharrt auf seiner Identität und speist daraus seinen Protest. Arendt bedient sich der Figuren des Paria und des Parvenu, um die jüdischen Existenzweisen ihrer Zeit zu beschreiben. Eine Überanpassung als Parvenu ist für sie zum Scheitern verurteilt, denn dadurch werden strukturelle gesellschaftliche Ungerechtigkeiten fälschlicherweise als individuelle Fehler angesehen.
Anhand Arendts Interpretation dreier Pariafiguren machte Pistrol deutlich, dass trotz unterschiedlicher Erscheinungsformen das Nicht-Hinnehmen der politischen Exklusion das einende Band ist:
- Heinrich Heine schaffte es Arendt zufolge, mit seiner Literatur, gesellschaftliche Verhältnisse als menschengemacht zu entlarven. Die Pointe ist dabei, dass, wenn Bestehendes auch anders sein könnte, politischer Handlungsspielraum erkennbar wird.
- Bernard Lazare lehnte sich gegen die antisemitische Propaganda im Rahmen der Dreyfus-Affäre auf. Er erkannte, dass auch vermeintliches Nichts-Tun eine Haltung ist, denn dies reproduziert Bestehendes.
- K., der Hauptakteur des unvollendet gebliebenen Romans „Das Schloss“ von Kafka, kommt als Fremder in eine gesellschaftliche Ordnung. Obwohl ihm weder der Zugang zur herrschenden Elite auf dem Schloss noch ein Mitspracherecht als Dorfbewohner zuerkannt wird, verweigert er, Rechte als Gnadengeschenk des Schlosses zu akzeptieren.
Letztlich scheitern alle drei Pariafiguren: Heine verharrt in der Literatur, Lazare setzt sich nicht gegen die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft durch und K. verlangt als Individuum ein Recht auf Rechte, welches nur im Kollektiv einklagbar ist. Doch wer wollte uns vormachen, dass Niederlagen immer vergeblich sein müssen? Pistrol endete seinen Vortrag mit folgenden Worten, in welchen man trotz des Scheiterns der Pariafiguren einen ermächtigenden Funken der Hoffnung verspürte: „Dennoch: Ein potentiell wirkmächtiges Beispiel vermögen sie allemal abzugeben“ – und er fügte ergänzend frei nach Arendt hinzu – „wobei einem Beispiel zu folgen freilich heißt, ihm anders zu folgen.“

In der anschließenden Diskussion wurden unter anderem Widersprüche in Arendts frühen und späten Schriften diskutiert und Ausführungen ihrerseits zur afroamerikanischen Geschichte problematisiert. Außerdem wurde die Frage aufgeworfen, ob die Denkfigur des Paria auch für das Verstehen gegenwärtiger Ereignisse nutzbar gemacht werden kann. Pistrol verwies in diesem Zusammenhang auf den Great American Boycott des 1. Mai 2006. Dies war einer der größten Streiks in der US-amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Millionen von klandestinen Latinos und Latinas versammelten sich auf der Straße. Jene verrichteten abseits der öffentlichen Wahrnehmung gesellschaftlich notwendige und harte Arbeiten, wie beispielsweise Ernte- oder Betreuungsarbeiten. Trotz gegenteiliger Zuschreibung traten sie als politische Subjekte auf. Sie forderten ein Bleiberecht und sangen die US-amerikanische Bundeshymne in ihrer Sprache, nämlich auf Spanisch – ein historischer Moment.
Als umfassender Arendt-Kenner führte Pistrol sowohl im Vortrag als auch in der anschließenden Diskussion kompetent durch verschiedene Argumentationen, welche in Arendts Gesamtwerk verstreut sind. Dabei verlor er sich nicht im theoretischen Gedankengerüst, sondern schaffte Verbindungen zu aktuellen Themen und zur praktischen Lebenswelt. Ganz nach seinem Arendt’schen Motto: „Das Denken muss aus der Erfahrung entspringen.“ Oder kürzer gefasst, wie er mit einem verschmitzten Grinsen hinzufügte und damit den Zuhörer:innen ein Lachen entlockte: „Keep it real!“
| Anna Weithaler
KURZBIOS
FLORIAN PISTROL
ist Universitätsassistent (prae doc) am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.
ANNA WEITHALER
ist Doktorandin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.
Waltraud Zechmeister
1958 in Wien geboren. Studium der Germanistik und Romanistik für das Lehramt. Neben Familie und Beruf widmet sie sich immer mehr der Kunst, die Dichtung begleitet sie seit ihrer Pubertät, zur Malerei kommt sie durch Kunstkurse in Zakynthos und in Wien.