Im Rahmen der Diskursreihe gegen:WART des Kulturkollektiv ContrApunkt hat am 23.2.2023 im Kubus Reich für die Insel die Veranstaltung zum Thema „KULTURELLE ANEIGNUNG //// stolen culture – Searching for the origin“ stattgefunden. Eingeladen waren die Bildungsreferentin Deborah Krieg und der Autor Jens Balzer, um mit ihrer Expertise einen Anstoß zur Diskussion über kulturelle Aneignung zu geben. (Die Diskussion kann hier online nachgesehen werden).
Wir haben uns im Anschluss mit dem dritten Gast des Abends, Albi Dornauer, über das Thema unterhalten, der bei der Veranstaltung als DJ für den musikalischen Ausklang sorgte. Dornauer ist in der Innsbrucker Szene als Musikenthusiast bekannt. Zusammen mit Maurice Kumar vom Kulturkollektiv ContrApunkt betreibt er das Innsbrucker Subkulturarchiv und in Wien ist er mit seinem eigenen Poster und Plattenladen Boom Boom vertreten. Fürs komplex gibt Dornauer aus seiner praktischen Perspektive persönliche Einsichten in das Thema der kulturellen Aneignung und alles, was da sonst noch hineinspielt.

komplex: Wenn man über „kulturelle Aneignung“ spricht, wird schon mal ein Verständnis von „Kultur“ vorausgesetzt und die Annahme, Kultur gehöre jemandem, sonst könnte man sie sich ja nicht aneignen. Wie siehst du das allgemein mit dem Kulturbegriff?
Albi Dornauer: Schwer zu sagen. Das ist ja auch das Schwierige an einer Diskussion über kulturelle Aneignung. Man muss sich vorher auf klare Definitionen einigen. Mit Kultur kann alles gemeint sein – Kochen, Gwand, Zusammenleben in einer Gesellschaft, zeitgenössische Kunst und Kultur usw. Deswegen ist das Thema der kulturellen Aneignung eines, das man in tausende Details zerreden kann. Wenn man in der Diskussion festgefahren ist, erweitert man einfach die Definition von Kultur und kann schon wieder tagelang weiterreden… so ergeben sich halt auch Äußerungen wie: „Dürfen dann nur noch Italiener italienisch essen gehen?“. Deswegen glaub ich, dass diese Diskussion allgemein eine unmögliche zu führen ist und es dabei zu keinen klaren Antworten kommen wird.
Trotzdem hast du dich bei der Diskussion kurz zu Wort gemeldet. Wie lässt sich mit kultureller Aneignung an deinen Fachbereich Musik anknüpfen?
Ich finde kulturelle Aneignung dann problematisch, wenn es um kommerzielle Interessen geht. Kulturelle Aneignung in der Musikproduktion als Gesamtes zu verdammen, ist der falsche Zugang, weil sich Kulturen ständig mischen und gegenseitig befruchten, und das war auch in der Musik immer schon so.
In Kolumbien, zum Beispiel, ist das beliebteste Instrument die Ziehharmonika. Die ist irgendwann vor 150 Jahren mal dorthin gekommen, weil ein Schiff aus Deutschland mit Ziehharmonikas gesunken ist, die dann angeschwemmt wurden. Dann hat es noch ein paar deutsche Einwanderer gegeben, die den Leuten gezeigt haben, wie sie das Instrument spielen. So gibt es jetzt auch in Kolumbien eine Art Polka, nur klingt ihre Musik ein bisschen anders, weil sie das Instrument auf ihre eigene Art spielen. Gleichzeitig gibt es wieder europäische Musikproduzenten, die dann Samples aus diesen Sachen für ihre Musik nehmen – und da ist auch nichts Verwerfliches daran. Die gesamte Sampling-Kultur, der gesamte Hip-Hop, wäre unmöglich ohne Aneignung.
Moralisch verwerflich ist das Ganze halt, wenn man ohne Credits irgendwelche exotisch klingende Elemente übernimmt und dann noch die Intention hat, einen großen Sommerhit damit zu schreiben. Meistens ist das Samplen in der Musikkultur aber eine Wertschätzung gegenüber der Musik und ihren Interpret:innen. Einige davon wurden dadurch wiederentdeckt oder von einer neuen Generation an Fans erschlossen, und das ist ja das Beste, das passieren kann.
Bei der Diskussionsveranstaltung wurde mehrmals auf den Fall der Musikerin Ronja Maltzahn verwiesen, deren geplanter Auftritt bei Fridays for future von den Veranstaltern mit dem Vorwurf kultureller Aneignung gecancelt wurde, da sie Dreadlocks trägt. Musik der Rastafari-Kultur ist ja auch einer deiner Schwerpunkte, wie siehst du das mit den Dreadlocks? Hattest du selbst mal welche?
Ich hatte nie richtige Dreads. Einmal hatte ich einen einzelnen Dread, der immer größer geworden ist. Als ich den aufmachte, habe ich beschlossen, dass ich meine Haare nie mehr verfilzen lasse (lacht). Jeder auf der Welt soll sich meiner Meinung nach so anziehen, wie er oder sie meint. Wieso soll ich das Recht haben, jemandem seinen Style vorzuschreiben? Ich kann höchstens sagen: ich finde, das sieht scheiße aus, so würde ich mich nicht anziehen… aber das war’s dann auch schon.
Was den Fall der Musikerin betrifft – ihre Frisur kann ja auch wertschätzend der Kultur gegenüber gemeint sein. Will man da als Veranstalter korrekt vorgehen, müsste man so etwas wie ein Awareness-Team einrichten, das vor dem Booking die jeweilige Person abcheckt, wie die so drauf ist. Angenommen, diese Person würde sagen, dass ihr von der Rasta-Kultur mit ihren Twelve Tribes of Israel der siebte Tribe der liebste ist, weil sich die auf diesen Teil des Alten Testaments beziehen, mit dem sie total gut kann…, kann man davon ausgehen, dass sich diese Person intensiv mit der Rastafari-Kultur beschäftigt hat und sich damit persönlich identifizieren kann. Bevor man jemanden wegen seines Styles beschuldigt, müsste man zuerst mal mit der Person reden… aber dann wird’s halt irgendwann auch absurd.
Du entdeckst die meisten deiner Platten auf Reisen. Wie sind da deine Erfahrungen – auch in der Position als weißer Europäer – in unterprivilegierten Regionen auf der Suche nach Musik unterwegs zu sein? Wie sind koloniale Spuren und Verhältnisse für dich persönlich spürbar?
Das Um-die-Welt-Fahren ist Teil von meinem Job. Beim Reisen dreht sich bei mir immer alles um die Schallplatten. Dabei bin ich auch auf der Suche nach lokalen Musiker:innen oder Expert:innen aus der lokalen Musikszene, mit denen ich mich dann treffe und unterhalte. Natürlich bin ich dadurch auch immer wieder in neokolonialistische Diskurse verwickelt – schon wieder kommen weiße Leute, die irgendwelche seltene Platten für wenig Euro kaufen und dann für viel Geld wieder verkaufen… Gleichzeitig sehe ich es als meine Mission, dadurch Musiker:innen aus diesen Ländern Zugang zu einem internationalen Musikpublikum und Markt zu verschaffen.

Immer, wenn vom „internationalen Musikmarkt“ die Rede ist, sind damit eigentlich nur Nordamerika, Europa und Australien gemeint. Ein Musiker kann in Indien Millionen verkaufen, wird aber trotzdem nicht am „internationalen Musikmarkt“ aufscheinen. Wenn jemand einen „internationalen Hit“ landet, heißt das, dass er im Westen erfolgreich ist. Länder in Afrika, Südamerika oder in der Karibik haben ihre lokalen Charts, zum Beispiel die Dancehall-Charts in Jamaica, aber auf den internationalen Markt haben die keinen Zugang. Es ist daher lächerlich, dabei von „international“ zu sprechen, wenn Musik aus ca. 120 Länder gar nicht wahrgenommen wird, nicht einmal aus Japan oder China. Es gibt daher mittlerweile Theoretiker:innen, die den Begriff „outernational“ als Gegensatz benutzen, wenn sie von Musik außerhalb des „internationalen“ Markt sprechen.
Eine andere problematische Sache in der Diskussion betrifft das Genre-Thema. Alles, was nicht unter die westlich bekannten Genres wie Rock, Jazz, Soul etc. eingeordnet werden kann, wird einfach als „Weltmusik“ bezeichnet. Für mich ist das ein Antibegriff, denn, soll das heißen, dass Musik, die aus England oder den USA kommt, nicht von der Welt ist? Sollten nicht eher Bands wie die Beatles, oder Rolling Stones als Weltmusik bezeichnet werden, weil man sie auf der ganzen Welt kennt? Musikgenres entwickeln sich ja laufend. Es fehlt da klar an Vokabular und Kontext-Wissen, um genau sagen zu können, das ist jetzt zum Beispiel Chuntey, Funana, Mbalex, Kwaito Bass oder Shangaan Electro etc. aber so wird halt, egal ob aus Argentinien oder der Mongolei, alles als „Weltmusik“ abgetan.
Weil du vorher deine „Mission“ angesprochen hast – Wie siehst du da deine Rolle in diesem Kontext?
Ich will jetzt nicht groß was verändern, aber ich kann einzelnen Menschen einen Anstoß geben, indem ich etwa deren Musik bei uns vertreibe. Die Frage, die sich mir in diesem Kontext stellt, ist: Wie schaffen wir es, dass sich die koloniale Ausbeutung nicht weiter fortsetzt und wir dabei zugleich nicht in die „White Savior“-Position rutschen?
Etwas, das ich zum Beispiel auf meinen Reisen – insbesondere in afrikanische Länder wie Ghana, Äthiopien oder Sudan – immer wieder von den Einheimischen vernommen habe ist, dass sie Wirtschaftsdeals mit chinesischen Partnern super finden, weil die mit ihnen Deals auf Augenhöhe machen. Da wird klar gesagt: wir wollen diese Bodenschätze und bauen dafür ein Eisenbahnsystem. Bei den Europäern hingegen beginnen die Verhandlungen mit einer Haltung von oben herab, da wird erstmal eine Geberkonferenz einberufen, und es geht klar hervor, dass sie in der Unterstützer-Position sind. Darauf haben die keinen Bock mehr, sie wollen ganz normal als Business-Partner ernst genommen werden – shake hands and it’s done.
Ich versuche halt, diesen Zugang zu pflegen. Zum Beispiel habe ich einen Partner in Ghana, der schickt mir einmal jährlich Schallplatten, er bekommt ein Drittel des Verkaufspreises, ein Drittel ist für den Ankauf, ein Drittel für mich, und mit dem Ertrag vom letzten Jahr kann er jetzt ein eigenes Restaurant eröffnen und ist weg vom Tagelöhner-Geschäft. Wenn ich das bei uns erzähle, kommentieren die Leute „Ah, du hilfst ihm dabei“ – aber nein, ich „helfe“ ihm nicht, ich bezahle ihm seine Arbeit.
Wie Deborah Krieg während des Talks ja auch mal angesprochen hat: Das Problematische an der „White Savior“-Position ist, dass wir uns zu viel überlegen, wie wir uns angemessen verhalten sollen, anstatt von vorneherein normal mit jemandem zu tun. Damit rutschen wir schnell wieder in dieselben kolonialistischen Muster. Es ist ein langer Prozess, diese Strukturen aus unserem System wieder rauszukriegen.
Gibt es etwas, das du an der Diskussionsveranstaltung über kulturelle Aneignung problematisch gefunden hast?
Ein Problem, das allgemein in der linken Szene besteht, ist meiner Meinung nach, dass sich das zum Großteil alles in einem universitären White Cube abspielt. Gerade in Innsbruck, wo auch innerhalb der Kulturszene total wenig „nicht-weiße“ Menschen aktiv sind, führen wir eine öffentliche Diskussion über kulturelle Aneignung in einer Bubble, in der von 150 Gästen vielleicht zwei außereuropäischer Herkunft sind, eine Veranstaltung die relativ losgelöst von der Lebensrealität und von ganz vielen Menschen ist, um die es eigentlich geht. Da ist die Diskussion im Grunde selbst schon wieder eine „White Savior“-Diskussion…
Egal ob ganz links oder ganz rechts, ich finde, es muss in einer Gesellschaft möglich sein, mit jemandem einfach mal ins Gespräch zu kommen. Man muss sich ja nicht einig sein oder gleich beste Freunde werden. Aber prinzipiell einen Dialog mit jemandem abzulehnen, weil einem dessen politische Einstellung nicht gefällt – wie soll sich da jemals irgendwas ändern? Jeder wird sich nur noch mehr in seiner Position verfestigen und es wird mehr Spaltung geben.
Und das Sich-Spalten hat ja schon innerhalb der Linken Szene Tradition. Man ist sich vielleicht in über 90% einig, aber dann kommt eine Unstimmigkeit und es wird daraus ein großes Drama gemacht. Es hat erst gerade in Wien den Fall gegeben, wo sich die Migrantifa in Migrantifa Wien und Migrantifa Vienna gespalten hat, weil sie sich im Punkt Israel nicht einig waren, wobei sich die Migrantifa vorher schon von der Antifa abgespalten hat, weil ihnen die Antifa zu österreichisch ist…
Bei der Anmoderation der Diskussionsveranstaltung wurdest du mit zwei Alter Egos vorgestellt – Alaska Al und Al Tropical. Wie handhabst du es mit deinem DJ-Ich?
Der Alaska Al ist der, der coole Musik spielt und der Al Tropical der, der heiße Musik spielt. Ursprünglich war es Alaska Al – ich fand einfach die Al-Al-Alliteration lustig. Durch meine Reisen hat sich aber der Sound, den ich aufgelegt habe, geändert und da habe ich mir gedacht, da passt jetzt Al Tropical besser. Seitdem ist der Name Programm. Beim IFFI habe ich mal als Al Ural Soviet-Musik aufgelegt, und in Wien war ich letztens der Al Oriental…
Dein DJ-Programm war ja auch Teil des Veranstaltungs-Konzepts. Mit welchem Gedanken hast du da die Musik zusammengestellt?
Ich nannte mein Set „reversed exotism“ – ein eigens für die Veranstaltung kreierter Ausdruck. An diesem Abend habe ich nur Nummern von Gruppen aus Südamerika, Afrika oder der Karibik gespielt, die sich quasi die Wikinger aneigneten, El Vikingo de la Salsa, die Vikings de Guadelupe, the Vikings of Haiti, the Mombasa Vikings aus Kenya das hat ja auch mit kultureller Aneignung und Exotismus zu tun, und dieser existiert auf der ganzen Welt – überall stellen sich Leute vor, wie es wohl woanders ist, es war nicht nur der Karl May, der sich das wilde Kurdistan vorgestellt hat.
Hast du auf deinen Reisen auch mal „reversed exotism“ in Bezug auf unsere Kultur erlebt?
Ja, in meinem Lieblingsland Peru. Da war ich auf einer Metal-Party in einem Proberaum, bei der über einen riesigen Fernseher über Youtube ein Metaltrack nach dem anderen gespielt wurde. Irgendwann sehe ich auf dem Bildschirm, dass sie bei einer Nummer, zu der es kein Video gab, einen Krampuslauf als Visual dazuschalteten. Darunter lese ich: „Trachtengruppe St. Johann im Pongau“. Ich habe mir gedacht, alter das kann ja nicht sein, dass die sich da mitten in Lima unseren Krampuslauf ansehen.
Beschäftigst du dich selbst auch mit Tiroler Volksmusik?
Ganz viel, ja. Aber da besteht halt auch ein Unterschied zwischen echter Volksmusik und für den Markt produzierter Volksmusik. Eigentlich ist fast alles, was wir als Volksmusik kennen, keine echte Volksmusik, sondern eigens im Studio produzierte Musik, die den Leuten gefallen soll und sich gut verkaufen lässt. Aufnahmen von echter Volksmusik findet man schwer. Es gibt aber eine gute Serie, musica alpina von Hans Haid. Das sind 13 CDs, für diese er mit einem Aufnahmegerät in Tiroler Tälern unterwegs war und zum Beispiel in Gasthäusern mit einem Mikrophon Musik aufgenommen hat, die die Locals dort spielen. Das ist im Prinzip echte Volksmusik. Was wir unter Volksmusik kennen, ist eigentlich Pop-Volksmusik.
Um mit einem Resümee abzuschließen – was schlägst du im Kontext der kulturellen Aneignungsdebatte als Lösung vor?
Das Ziel dieser Debatte sehe ich darin, das Bewusstsein zu festigen, dass wir im Westen lange genug auf Kosten der restlichen Welt gelebt haben und daran was ändern müssen. In diesem Kontext ergeben sich laufend neue Fragestellungen – wie jene über kulturelle Aneignung – auf die es meist keine klaren Antworten gibt. Man muss sich das halt auch eingestehen, dass man keine Antwort auf etwas hat, bevor man anfängt darüber zu streiten. Das Wichtigste ist, dass man sich gegenseitig zuhört und nicht der Kampf ums Recht im Mittelpunkt steht. Der eigentliche Kampf wird dabei in den linken Kreisen oft vergessen: der gemeinsame Kampf gegen die Eliten und die neoliberale Welt.
Stimmiger Abspann
Als wir nach dem Gespräch das Cafè La pausa verlassen, ertönen rechts von uns traditionelle Klänge und bald marschiert eine kleine Trachtengruppe, hauptsächlich Kinder mit umgehängten Kuhglocken, durch die Kiebachgasse:
„Zurück zum Ursprung – ohne, was weiß ich, aus Italien kommende Gitarren oder aus den USA kommende Keyboards bleiben in Tirol halt wahrscheinlich die Kuhglocken übrig…“
– Albi Dornauer

Die nächste Diskussions-Veranstaltung der Reihe gegen:WART findet am 13.5.2023 in Kooperation mit dem Heart of Noise-Festival in der p.m.k zum Thema „Pop hat (k)ein Problem“ statt.
| Brigitte Egger
Diskussionsveranstaltung
„gegen:WART : Kulturelle Aneignung // stolen culture – Searching for the origin“ (23.2.2023)