IFFI. Letzter Abend. Die vorletzte Vorstellung. Die Tische sind abgebaut. Die Flyer eingepackt. Es spielen zwei Filme. Der erste von beiden stammt aus dem Jahre 1958. Es ist ein argentinischer Film, entstanden unter der Regie eines Herrn Fernando Birri. In nur 33 kurzen Minuten, schwarzweiß, mit analoger Bildqualität schafft es der Film eine so eindrucksvolle Atmosphäre zu schaffen, dass der Autor dieses Artikels, in eine andere Welt entführt wurde.
Der Film spielt in Santa Fe, wichtige Hafenstadt und bedeutender Wirtschaftsstandort in einer der fruchtbarsten Regionen Argentiniens. Oder besser gesagt erzählt er von den Slums am Stadtrand. Armut. Desolation. Arbeitslosigkeit. Es herrschen schlimmste Zustände. Ein krasser Vergleich mit all den statistischen Zahlen, die einen Eindruck von dem Wohlstand Santa Fe’s vermitteln. Die erste Hälfte dreht sich eigentlich nur um Interviews mit den Familien dort, den Müttern, die nicht arbeiten gehen können, weil sie einen doppelten Tagelohn für die Betreuung ihrer zahlreichen Kinder berappen müssten. Von den Vätern, welche keine gut genug bezahlte Arbeit finden, um ihre großen Familien zu ernähren. Von den Kindern, die aus den Schulen geworfen wurden, weil sie sich einmal nicht benehmen konnten und von denen man sich fragt, welche Wahl sie den haben sollten, aus diesem Kreislauf der Armut ausbrechen zu können.
Die kleinen Kinder haben eine andere Chance gefunden Geld zu verdienen, den „Tire dié“. Auf einer langen Bahnbrücke, der Linie zwischen Santa Fe und Buenos Aires laufen sie auf einer Länge von 2 km dem Zug nach und schreien ein Wort eben Tire dié – Wirf einen Groschen! Die Fahrgäste werfen. Nun fällt einem ein Unterschied auf. Zwischen den wohlgeformten, noblen, Gesichtern der Zuggäste. Ihrer Kleidung und ihrer Normalität. Ein schreckliches Wort eigentlich, aber passend. Normal auch noch heute. Unter ihnen neben dem Zug, die Kinder. Nicht nur ärmlich gekleidet, aber mit Zahnlücken, und Verletzungen, dreckigen Haaren und breiten Nasen, die auf ihr inogenes genetisches Erbe schließen lassen. Erst jetzt wird einem klar, dass wir uns in einem europäisch zivilisierten Land befinden. Es wird Spanisch gesprochen. Es gibt Schulen, es gibt Ärzte, es gibt Infrastruktur. Aber es gibt eben auch die anderen. Die am Rand der Stadt wohnen. Die Kinder, die sich die Groschen untereinander aufteilen. Manche gehen und liefern das Geld Zuhause bei den dankbaren Müttern ab, sodass diese die extrem teuren Kartoffelpreise stemmen können. Manche gehen und kaufen sich davon Stifte und Schulhefte. Ein anderer Junge rennt ins Kino um sich einen Western anzuschauen. Kinder sind eben doch Kinder.
Der zweite Film, der Hauptfilm „Un Senor muy viejo con unas alas enormes“, wirkt noch surrealer als er eigentlich ist, einfach nur deswegen, weil er nach dieser kurzen aber drastischen Dokumentation gezeigt wird. Er basiert auf einer Geschichte des großen Gabriel Garcia Marquez. Magischer Realist. Und Autor von so vielen schönen Büchern, unter ihnen auch „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“. Dort spielt ein Papagei eine sehr prominente Rolle. Über Vögel im Entfernten und Flügeln im Speziellen geht es auch hier. Während eines Sturmes in einer Holzhütte am Strand, das Haus ist voller Krabben. Große, fette, gemeine Krabben mit Scheren. Drinnen ein Bauer, seiner Frau und ein Baby als Bewohner. Sie versuchen verzweifelt mit der Krabbenplage fertig zu werden. Plötzlich entdecken sie im Meer, am Steg in einem Netz verfangen einen alten Mann. Mit Flügeln. Gigantischen, weißen Flügeln. Irgendetwas zwischen Engel und Huhn.
Die Nachricht spricht sich natürlich um. Die Warnung einer Nachbarin „Das wird böse enden“ will die Hausherrin nicht wahrnehmen. Sie bleibt des Engels Freundin bis zum Ende. Dazwischen entspinnen sich magisch realistische Szenen, so viel, so symbolhaft, dass es sich wirklich nur um eine Kopfgeburt des großen Gabriel Garcia Marquez handeln kann. Ein Genuss!
DP