Im Rahmen der zweiten BÜCHSENHAUSEN FOKUS WEEKS 2019 habe ich zwei Veranstaltungen, die sich intensiv mit Milano 2, einem Wohnkomplex außerhalb Mailands, auseinandersetzten, besucht. In diesem Beitrag versuche ich, die zentrale Frage, ob es sich bei diesem Lebenskonzept um eine Utopie oder Dystopie handelt, zu beantworten.

Bild: Riccardo Giacconi „Due“ (Filmstill), 2017
Riccardo Giacconi beschäftigt sich innerhalb des Fellowship-Programms für Kunst und Theorie 10/2018 – 06/2019 und seinem Projekt Vizio di forma (Formfehler) mit dem Beispiel Milano 2 und recherchiert über „das Verhältnis zwischen Städteplanung und Medienmacht“, was als Basis für die Konzipierung eines Films und einer Publikation dient. Giacconi studierte Kunst an der Universität Venedig, gefolgt von zahlreichen Ausstellungen und Auszeichnungen für seine künstlerische Tätigkeit. Er ist Mitbegründer des Kollektivs Blauer Hase, mit dem er die Zeitschrift Paesaggio herausgibt und das Festival Helicotrema kuratiert.¹
Milano 2, dessen Initiator Silvio Berlusconi ist, wurde zwischen 1969 und 1979 erbaut und zählt ca. 8.000 Einwohner und Einwohnerinnen.
Milano 2 sollte die Utopie einer „anderen“ Welt abseits der bestehenden Stadt verwirklichen, zugunsten einer aufstrebenden neuen Mittelklasse, die vor den damaligen politischen Turbulenzen im Land flüchten wollte – quasi eine sichere und ruhige Festung für die Reichen, mit allem Komfort, den eine Absonderung von der Öffentlichkeit bieten konnte.²
Charakteristisch für die in sich abgeschlossene Wohnanlage ist das Verkehrssystem, welches zweit Meter unterhalb der Fußgängerwege verläuft. Die Straßenübergänge wurden mittels Brücken gelöst, wodurch Passanten auf keinem Weg mit Autos in Verbindung geraten müssen. Weiteres sind unter anderem Schulen, Kindergärten und ein Sportzentrum vorhanden. Neben nur einem einzigen Restaurant, sehe ich auch das nicht-vorhandene Kulturprogramm und das ebenso nicht-vorhandene Nachtleben als problematisch an, was in der totalen Überwachung der Anlage gipfelt.
Eine andere Besonderheit von Milano 2 ist die Etablierung des ersten privaten TV-Senders Italiens TeleMilano ab 1974, welcher in der Folge als Canale 5 landesweit ausgestrahlt wurde und als Startpunkt für Berlusconis Medien- und später Politikimperium gilt.
Am ersten Abend der Veranstaltungsreihe stellte Enrico Hoffer, Architekt von Milano 2, die Realisierung des Projekts vor. Darauf folgte am zweiten Abend eine performative Lesung von Carlo Mazza Galanti und eine performative Filmvorführung von Riccardo Giacconi. Galanti, der seine Kindheit in Milano 2 verbrachte. Er fasste in Remember Milano 2. Utopia of a dystopian childhood aus der Perspektive eines Kindes zusammen, wie es sich anfühlt sich an einen Ort zu erinnern, der eigentlich kein Ort ist – „a fake, strange, virtual place“ (Carlo Mazza Galanti). In The city of number ones. Pictures of Milano 2 zeigte Giacconi seine persönliche Auseinandersetzung mit dem Komplex und verwies meiner Meinung nach auch auf die Vergänglichkeit dieser Schein-Utopie.
Generell vermittelt Milano 2 für mich das Bild eines sehr behüteten, aber auch kontrollierten Zusammenlebens. Die Erinnerung an Wohnheimkomplexe, wie ich sie in Frankreich kennengelernt habe, kam mir als erstes in den Sinn, gefolgt von der Verknüpfung von Milano 2 mit dem Konzept der sogenannten „New Towns“. Ich kann verstehen, dass es für Kinder ein schöner Ort zum Aufwachsen ist, dennoch hätte sich bei mir der Wunsch nach einem Ausbruch aus dieser Lebenssituation spätestens im jugendlichen Alter eingestellt. Die Kombination aus Text, Google Earth-Bildern und summenden Hintergrundgeräuschen der performativen Lesung löste in mir ein beklemmendes Gefühl aus. Bei der zweiten Vorführung erging es mir ähnlich und es verwundert mich nach wie vor, dass so eine Form von Lebensstil für viele Menschen trotzdem funktioniert. Nun stellt sich mir noch immer die Frage, ob Utopie oder Dystopie? In Bezug auf Kinderfreundlichkeit kann durchaus behauptet werden, dass es sich um etwas Utopisches handelt, trotzdem sind die isolierte Lebensweise und die ständige Überwachung meist dystopische Motive. Letztendlich weist Milano 2 für mich gewisse Merkmale einer Art „Truman Show“ auf, vor allem verbunden mit der TV-Station, die zunächst nur das Leben in der Wohnanlage zeigte.
Die nächsten beiden Veranstaltungen finden am Donnerstag, den 28. März 2019, um 19:30 Uhr und am Freitag, den 29. März 2019, um 19:00 Uhr im Schloss Büchsenhausen statt. Zum einen eine Work-in-progress-Lesung The past is an arrow into the futur mit Micheal Baers und Caroline Richards, in der es um die Rolle der Fiktion in der Kunst und um die historische Fiktion im Allgemeinen geht und zum anderen eine performative Lesung zusammen mit einem Vortrag und einer Diskussion Three (or more) ecologies: Reports on ecology, democracy & feminist futures from Rojava & Baku mit Rojda Turgul, Dilar Dirk und Angela Anderson, worin die Thematisierung der Zerstörung von Lebensräumen und Ökosystemen in den kurdischen Regionen der Türkei, des Irak und Syriens durch Staudammprojekte, und die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Demokratischen Föderation Nordsyrien (Rojava) im Mittelpunkt stehen.³
¹ Büchsenhausen Fellow Riccardo Giacconi
² Milano 2
³ Künstlerhaus Büchsenhausen Veranstaltungen
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