Innsbruck ist österreichweit nicht gerade für seine Kunstszene bekannt. Meist sind es eher die Natur, traditionelle Sehenswürdigkeiten und der Sport, welche neue Menschen hierher locken. Doch die Straßen der Stadt bergen eine erstaunliche Vielzahl von Galerien und alternativen Ausstellungsplattformen, und neben internationalen Namen füllt auch eine Menge lokaler Kunstschaffender besagte Orte mit ihren Projekten.
Jeden November versuchen die Premierentage seit nunmehr 21 Jahren, diese Fülle drei Tage lang sichtbar zu machen und leiten uns an, sie kennenzulernen. Und Jahr für Jahr fühlt sich dieses Konzept für mich ein bisschen schwammig und konturenlos an; enthalten sich die Premierentage doch standhaft der Festlegung eines thematischen roten Fadens. Im Zuge der Expert*innenführung am Samstag lege ich mit einer Gruppe Kunstinteressierter den Weg von der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman zum Waltherpark zurück, und frage mich gleichzeitig, wie diese beiden Orte eigentlich zusammenpassen sollen. Während am ersten Standort in klassisch weißer und ruhedurchfluteter Galerieatmosphäre eine Ausstellung mit Skulpturen von Michael Klienzer zu sehen ist, hängt Benjamin Zanons Ausstellung im Freien. Und das muss sie sogar, setzt sie sich doch inhaltlich mit dem Projekt Vogelweide, also dem Ort, an dem sie sich befindet, auseinander. Zanon stellt künstlerische Überlegungen zur Besetzung des Stadtraumes an. Ganz oben hat er Audiodateien, Field-Recordings aus Venedig, visuell verarbeitet. Impressionen einer Stadt, die heute mehr den Tourist*innen als den Einwohner*innen gehört und sich im ständigen Kampf gegen diese Entwicklung befindet, hängen wie ein drohendes Ohmen am Horizont der Ausstellungsfläche. Ähnlich wie Venedig ist auch Innsbruck eine touristische Stadt; auch die Innsbrucker Regierung darf nicht vergessen, Flächen für die Bevölkerung zu freizuhalten. Nur einen Katzensprung entfernt sind am anderen Flussufer die Altstadt und der Kongress zu sehen. Wir befinden uns auf der weniger öffentlichkeitstauglichen Seite des Inns, in einem Park, welcher auf den ersten Blick vielleicht etwas schmuddelig anmutet, für den Stadtteil St. Nikolaus jedoch einen zentralen Begegnungsort darstellt.

Foto: Brigitte Egger
Die Premierentage führen mich auch noch an andere Orte, die viele von uns sonst übersehen. So etwa das leerstehende, würfelförmige Haus vor dem Landestheater, welches momentan vom Zwischennutzungsprojekt „Reich für die Insel“ belebt wird, oder der Innenhof der früheren Walde Seifenfabrik, in dem am Donnerstag mit Suppe und Musik die Eröffnung gefeiert wird. Drinnen nimmt neben den Organisator*innen auch Kulturstadträtin Uschi Schwarzl das Mikrofon in die Hand. Das Publikum ist gemischt, größtenteils schon etwas älter. Die Schwierigkeit, junge Menschen anzuziehen, wird in der Eröffnungsrede thematisiert. Als wir auf die Innstraße zurückkehren, steht am Gehsteig ein Einkaufswagen voller Spraydosen: nachdem für diesen Platz lang vergeblich ein Zebrastreifen erbeten wurde, nimmt der Verein Vogelweide das Stadtbild selbst in die Hand und malt ihn einfach auf die Straße. Neben einer Menge hupender Autos (man ist sich nicht sicher, ob aus Zustimmung oder Verärgerung) ist nach kurzer Zeit auch die Polizei zur Stelle um das visuelle Ärgernis wieder zu beseitigen. Das Kunstpublikum von drinnen nimmt teilweise selbst eine Spraydose in die Hand oder steht zumindest applaudierend daneben. Hier werden nicht nur Brücken zwischen widersprüchlichen Orten geschlagen, auch verschiedene Menschengruppen treffen aufeinander. Manchmal vielleicht etwas schwerfällig, manchmal wirkt es sich ein bisschen gekünstelt, manchmal betritt man eine Vernissage mit ausgelatschten Schuhen und fühlt sich angesichts des feinen Publikums deplatziert. So ist auch ein gewisses Maß an Unbehagen immer Teil meiner Premierentage-Erfahrung. Trotzdem gehe ich jedes Jahr hin. Kunst findet in Innsbruck in so vielen verschiedenen Kontexten statt, dass ein weitgefasstes Format wie die Premierentage unweigerlich Menschen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen würden, dazu bringt, in Kontakt zu treten, und das nicht nur im Publikum.

Foto: Delia Salzmann
Im WEI SRAUM präsentiert Hans Dragosits am Freitagabend sein Fotoprojekt „Innsbruck Eingeschrieben“. Seit Jahren durchkämmt der mittlerweile pensionierte Fotograf die Stadt auf der Suche nach Straßenkunst, um Graffiti, Sticker und andere urbane Ausdrucksformen fotografisch festzuhalten. Auch diese Medien sind eine Möglichkeit für die Bevölkerung, sich im Stadtbild bemerkbar zu machen. Dragosits beschreibt jene zweite Ebene der Kommunikation, welche meist heimlich, im Dunkeln stattfindet und auf den Oberflächen der Stadt ablesbar bleibt. Indem er dieser Kommunikation nachspürt, macht der Fotograf eine neue Art der Stadterfahrung: legt man den Fokus auf etwas Anderes, so entstehen gleichzeitig auch neue persönliche Hauptstraßen. Für ihn sind es jene, an denen besonders viel Straßenkunst passiert, so etwa die öffentlich als besonders gefährlich verrufene Ingenieur-Etzel-Straße. Auch die Premierentage legen für ein paar Tage ein neues Verkehrsnetz über die altbekannte Stadt. Nicht umsonst trägt das Format den Untertitel „Wege zur Kunst“: das physische Durchstreifen Innsbrucks und die Auseinandersetzung damit gehören genauso zum Konzept wie das tatsächliche Erleben einer Ausstellung oder Performance. Die Wege zwischen den Galerien und Ausstellungsorten, oft kleine Gassen und wenig belaufene Straßen, meist zu Fuß zurückgelegt, werden für das Publikum ein paar Tage lang die Hauptverkehrsadern der Stadt.
Besonders gerne denkt Dragosits an die Interaktion mit einem jungen Mann zurück, der nach einer Nacht in der Bogenmeile an einem Sonntagvormittag noch immer ein Bier in der Hand hatte und Dragosits‘ Fotoprojekt wohlwollend kommentierte. Während der Präsentation im WEI SRAUM wird plötzlich ein anderer junger Mann vom Publikum nach vorne bugsiert: einer der Straßenkünstler*innen, deren Werke in Dragosits‘ Projekt verewigt sind. Fotograf und Künstler haben sich noch nie getroffen und kommen durch die Ausstellung spontan ins Gespräch. Dieses Jahr konnten die Premierentage ein besonders großes Publikum anziehen: bei jeder Veranstaltung, die ich besucht habe, fand ich eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen vor. Zurück bleibt der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht so wichtig ist, die zwei Gesichter dieser Stadt thematisch unter einen Hut zu bringen, solange man willens ist, sich mit beiden auseinanderzusetzen und die Wege zu gehen, die hinführen.
DS