Lektorat – der berufliche Wunschtraum vieler angehender Philologinnen und Philologen und der ganz normale Alltag von Linda Müller. Die Lektorin des Haymon Verlags hat sich mit komplex über ihre Arbeit unterhalten.
Es ist ein ungewöhnlicher Anblick: Der Sparkassenplatz ist voller Menschen. Familien treffen sich, um Kaffee und Kuchen zu genießen. Paare schlendern durch die Straßen und kümmern sich um die Weihnachtseinkäufe. Der vierte Lockdown ist vorüber und der Stress der Weihnachtszeit scheint sich durch den geringeren Zeitrahmen zu verdichten. In der Erlerstraße lockert sich die Stimmung. Es sind dort kaum Menschen zu sehen und auch das Stiegenhaus des Gebäudes Nummer 10 ist leer. Von der vorweihnachtlichen Hektik ist zumindest für Außenstehende dort am 20. Dezember wenig zu spüren.

Die Lektorin Linda Müller wartet bereits in ihrem Büro, dessen Zentrum ein massiger Schreibtisch bildet. Direkt dahinter liegt ein Fenster, das von schwarzen Bücherregalen gerahmt wird. Darin befinden sich u.a. „Kaschmirgefühl“ von Bernhard Aichner und „Unterwasserflimmern“ von Katharina Schaller. Beide Romane erschienen im Programm des Haymon Verlags, das derzeit auch von Linda Müller mitgestaltet wird, denn alle Lektorinnen des Hauses haben mehrere Aufgabenfelder. So räumt die Tirolerin gleich zu Beginn des Gesprächs mit Klischees auf:
„Das ist eine romantische Vorstellung, die viele Menschen von Verlagsarbeit haben, dass man während der Arbeitszeit viel Zeit zum Lesen hat, aber de facto ist es sehr viel Austausch und Organisation.“
So ist Linda Müller beispielsweise Bestandteil des verlagseigenen Lesezirkels, sucht bei Events das Gespräch mit den Rezipientinnen und Rezipienten und setzt sich mit dem Social-Media-Feedback auseinander.
Die Vorstellung von der Lektorin, die den ganzen Tag hinter Büchern sitzt, ist somit überholt und die Arbeitsweise im Lektorat gar nicht so leicht zu erklären, weil diese auch davon abhängt, wie die Autorin oder der Autor arbeitet und in welchem Stadium sich der Text befindet, wenn er bei der Lektorin eintrifft. Grundsätzlich kann die Vorgehensweise jedoch in unterschiedliche Stadien eingeteilt werden. An erster Stelle steht das inhaltliche Lektorat, in dem sich Linda Müller mit dem großen Ganzen auseinandersetzt und sich beispielsweise die Zeichnung der Figuren sowie die Sinnzusammenhänge ansieht. Dann folgt das stilistische Lektorat, wobei sie u.a. auf Wiederholungen, Sprachrichtigkeit und den Rhythmus achtet.
„Insgesamt ist es sehr wichtig, nicht den eigenen Geschmack über einen Text zu stülpen. Es geht darum, ein Werk aus sich heraus zu feilen, also seinen Charakter zu stärken, anstatt ihn zu verändern“,
erklärt die Lektorin. Den abschließenden Schritt bildet das Korrektorat, das häufig eine andere Person übernimmt, da nach mehrmaliger Lektüre eines Textes viele Fehler nicht mehr auffallen.
Linda Müller holt einen schweren Ordner aus dem Regal und schlägt diesen am Tisch auf. Darin finden sich unzählige Werkzeuge, die sie für die Gestaltung von Büchern einsetzt. Unter anderem verschiedenfarbige Kopfbänder und ein Pantone-Fächer. Letzterer ist wichtig, wenn der Verlag für das Design des Buches einen ganz besonderen Farbton auswählt. Dass dieser vielseitige Beruf der Traum vieler angehender Philologinnen und Philologen ist, ist Linda Müller bewusst.
„Wenn man damals, als ich studiert habe, 200 Erstsemestrige gefragt hätte, was sie werden wollen, hätten wohl 100 Autorin beziehungsweise Autor und 100 Lektorin beziehungsweise Lektor geantwortet“,
sagt sie. Dass sie selbst nach ihrem Germanistikstudium eine Vollzeitstelle beim Haymon Verlag bekommen hat, erklärt sie heute mit einem Wort: Glück. Man könnte es jedoch auch anders auslegen, denn die Germanistin hat sich bereits im Studium bei dem Verlag beworben und im Rahmen des Praktikums so überzeugt, dass sie im Anschluss einen Nebenjob im Unternehmen bekam.
Schmunzelnd erinnert sich Linda Müller heute daran, wie Verleger Markus Hatzer einen Vortrag an der Universität hielt und sie die Aussage, dass Verlagsarbeit zu beinahe gleichen Teilen aus Unternehmergeist und Herzblut besteht, damals so beeindruckte, dass sie am folgenden Tag gleich eine Initiativbewerbung an Haymon sendete. Ihr beruflicher Werdegang führte sie schließlich durch unzählige Bereiche der Verlagsarbeit. Mittlerweile kümmert sie sich um Lektorat, Programm sowie Marketing. Lachend sagt sie und schließt damit an die Aussage von Markus Hatzer an: „Man muss in dieser Branche eben nicht nur mit Buchstaben, sondern auch mit Zahlen umgehen können.“
Doch auch wenn dieser Karriereweg so vorbestimmt scheint, hatte Linda Müller nicht immer das Ziel, Lektorin zu werden. Bereits als Kind liebte sie es, sich Bücher vorlesen zu lassen und konnte es kaum erwarten, selbst lesen zu lernen. Als sie dann soweit war, nützte sie jede Gelegenheit und verschlang beispielsweise beim Zähneputzen Teile ihres neuesten Lieblingswerks. Trotzdem suchte sie sich nach der Schule nicht gezielt ein philologisches Studium aus. „Ich wollte eigentlich im Sozialbereich arbeiten und stolperte bei der Suche nach Studiengängen über Germanistik“, sagt sie und fügt hinzu: „Da dachte ich mir: Das mach ich jetzt mal.“

Nach dem Gespräch folgt noch ein kurzes Shooting in der Buchhandlung Haymon, die sich unter den Etagen des Verlags befindet. Das Geschäft ist voller Menschen, die noch suchen oder bereits lesen. Menschen, die Weihnachtsgeschenke auswählen, vor den Ferien noch schnell Recherchematerialien sammeln oder sich selbst möglicherweise ein Geschenk machen wollen. Jedenfalls wirken alle ruhig und zufrieden und auch Linda Müller fühlt sich wohl in der Buchhandlung, die auch deshalb eine besondere Bedeutung für die Lektorin hat, weil sie ein Ort des Dialogs ist.
| Christina Vettorazzi
Ein Gedanke zu “LITERATUR|Betrieb unter vier Augen: Im Gespräch mit LINDA MÜLLER”