Philo*Café | ERIK VOGT über Peter Handkes romantische Poetik

In welchem Verhältnis stehen Literatur und soziale Realität? Wo verlaufen die Grenzlinien zwischen Ästhetik und Politik? Lässt sich zwischen dem literarischen Schaffen einer Autor:in und ihren Stellungnahmen zum politischen Zeitgeschehen sauber unterscheiden? Welche Aufgaben und Zwecke hat die Literatur überhaupt – in einer Zeit, da traditionelle künstlerische Selbstverständnisse fragwürdig geworden sind? Diese Fragen standen im Zentrum der Debatten infolge der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke im Jahr 2019. Im Rahmen eines PhiloCafé-Spezial-Vortrags setzte sich der Philosoph Erik Vogt am 15. Juni 2022 im Rahmen einer kritischen Lektüre von Handkes Poetik damit auseinander. Dabei fokussierte er insbesondere auf das romantische Dichtungsideal, das für Handkes Scheiben leitend ist.

(c) Oberbaumpresse, Berlin, 1967

Literatur als Mythologie

Mit Blick auf Handkes frühe Schrift Die Literatur ist romantisch (1967) arbeitete Vogt eingangs heraus, dass die Romantik für Handke zunächst als Gegenentwurf zum in der Gruppe 47 [einflussreiche Autor:innenvereinigung in der Nachkriegszeit, Anm. d. Red.] verbreiteten Neorealismus sowie zu Sartres Idee einer engagierten Literatur bedeutsam wird. Literatur ist aus dieser Sicht insofern romantisch, als sie weder einfach die außersprachliche Wirklichkeit darstellt noch einer bestimmten politischen Haltung Ausdruck verleiht. Im Gegenteil ist Literatur, so Handke, grundlegend selbstreferenziell und selbstreflexiv. Mitte der 1970er Jahre erweitert und verändert sich Handkes Romantikverständnis. Entscheidend ist dafür, wie Vogt geltend machte, Handkes Heidegger-Rezeption: Heidegger löst Wittgenstein, der für den frühen Handke und seine Auffassung von Sprache und Dichtung bestimmend gewesen war, zunehmend als Orientierungsgröße ab. Für Heidegger verfügt die Dichtung über einen besonders ursprünglichen Zugang zur Wirklichkeit. Dabei bildet die Sprache die Realität nicht einfach ab, sondern die Wahrheit wird in der Dichtung überhaupt erst zum Vorschein gebracht. Handkes eigene Losung lautet in diesem Zusammenhang „Verwirklichung“: Die Literatur ver-wirklicht, d.h. sie verleiht dem, was erscheint, allererst den Charakter des Wirklichen. Sehen und Schreiben werden damit bei Handke, so Vogt, zu „quasireligiösen Praktiken, die eine neue Wirklichkeit zu schöpfen vermögen“.

Der Literatur wird so zugetraut oder zugemutet, eine (andere) Welt und Geschichte zu entwerfen. Literatur ist dann Mythologie. Der Mythos ist eine Erzählung, die Auskunft geben möchte über Aufbau und Sinn der Welt sowie über die Stellung des Menschen in ihr. Insofern stiftet und sichert der Mythos Identität und Zusammenhalt, er liefert ein geteiltes Fundament und tritt an, die Gemeinschaft zu versammeln. Vogt rief in Erinnerung, dass Handke mit Blick auf seinen Roman Langsame Heimkehr (1976) programmatisch von einem „bereinigenden Mythologisieren“ spricht: Die Literatur soll eine Art „milde Entfremdung“ hervorrufen, die die Dinge in einem anderen Licht sehen lässt. Gegen die moderne Entzauberung der Welt stellt Handke eine „Remythisierung der Sprache“, so Vogt, mit dem Ziel, eine vergangene Harmonie wiederzugewinnen.

 „Große Literatur“ nach Auschwitz?

Vogt bezog sich in der Folge auf die Überlegungen des französischen Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe, der von einem „romantischen Rest“ in Heideggers Verständnis von Dichtung spricht. Wahrheit kann es für Heidegger – und Handke folgt ihm hier – letztlich nur in der Dichtung geben. Die begriffliche Sprache muss immer hinter der Unmittelbarkeit der Erfahrung zurückbleiben, die allein die Dichtung zu artikulieren vermag. Zudem sind sowohl Heidegger als auch Handke, so Vogt, von den Momenten der Gestaltung und des Mythos „besessen“. Der Mythos fungiert bei Heidegger als „Ursprungsgedicht eines Volkes“. Demnach kann ein Volk, wie Lacoue-Labarthe in seiner Lektüre deutlich macht, für Heidegger nur auf der Grundlage des Mythos entstehen. Im Mythos verschränken sich damit Ästhetik und Politik bzw. werden ununterscheidbar. Heideggers „politisches Programm beruht auf einer mythopoetischen Verkündigung des Schicksals des deutschen Volkes“. Das Politische wird damit selbst als Kunstwerk begriffen. Deutlich wird das u.a. an Heideggers Hölderlinlektüre, der ein bestimmtes Verständnis der Tragischen zugrunde liegt, wie Vogt mit Lacoue-Labarthe argumentierte: Die Tragödie wird als die „politische Kunst par excellene“ verstanden, als eine „ideale Darstellung der mythischen Gestalten“. Dieses Verständnis des Tragischen bzw. der mythischen Politik der Tragödie findet seinen Gipfelpunkt letztlich im Nationalsozialismus: Der NS-Mythos zielt auf eine, man könnte sagen, Selbst-Darstellung des Volkes ab – darauf, dass das Volk sich mit sich selbst und in der Figur des Ariers identifiziert. Insofern lässt sich laut Vogt auch von einem National-Ästhetizismus sprechen.

Dabei ist die Tragödie heute, nach Auschwitz, nicht mehr in dieser Weise als Darstellung des Mythischen verfügbar, wie Vogt unter Rückgriff auf den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy argumentierte. Nach Auschwitz kann es keine Zuflucht mehr in einer „höheren oder tieferen Wahrheit“ geben. Vor diesem Hintergrund ist anzuerkennen, dass die Kunst nach Auschwitz grundlegend entstellt ist. Daran schloss Vogt mit Adorno die Frage an, ob Kunst heute, anstatt an den Grandeur der Tradition zu appellieren, sich nicht vielmehr „gegen sich selbst wenden“ und „bis in ihr Innerstes hinein prekär werden“ muss; Lacoue-Labarthe greift in diesem Zusammenhang Adornos Begriff der „Entkunstung“ auf.

Handke beruft sich demgegenüber, wie Vogt betonte, regelmäßig auf das Motiv einer großen Kunst bzw. einer großen Literatur – einer Literatur, die in der Lage sein soll, als mythische Erzählung einen neuen Vorgriff aufs Heilige zu liefern und der Gemeinschaft eine verlorene Identität zurückzuerstatten. Handkes romantische Poetik möchte demnach aufs Neue die Unterscheidungen von Ästhetischem und Politischem einebnen bzw. die Kluft verhüllen, „die das Ästhetische vom Politischen trennt“, so Vogt.

Der jugoslawische Mythos

Insofern lässt sich nicht eindeutig zwischen Handkes literarischem Schreiben und seinen politischen Einlassungen unterscheiden. Folgt man Vogt, dann beruht Handkes romantische Poetik vielmehr gerade auf der Aufhebung der Differenzen von Kunst und Politik; die große Literatur und das Volk sind eng miteinander verwoben. Das „politische Phantasma“, das hier im Hintergrund steht, ist aus Vogts Sicht eine jugoslawisch-serbische Identität, die als mythischer Bezugspunkt zur Rückbesinnung auf ein wahres und eigentliches Europa fungiert. Die Idee Jugoslawien fungiert als ein „verborgenes Zentrum von Handkes Schriften“. Damit verbunden ist die Hoffnung, durch ein „bereinigendes Mythologisieren“ zu einer Darstellung der jugoslawischen Idee zu kommen, die es erlaubt, die Krise Europas zu überwinden.

Literatur, Theorie und Politik

Vogts kritische Lektüre von Handkes Poetik gab im Anschluss an den Vortrag Anlass zu weitläufigen Diskussionen. Debattiert wurde dabei nicht zuletzt ganz grundsätzlich über das Verhältnis von Literatur, Theorie und Politik. In diesem Zusammenhang habe ich u.a. die Frage gestellt, wie mit den problematischen Implikationen von Handkes Poetik umzugehen ist: Braucht es eine Art dekonstruktive Lektüre, ein Gegen-den-Strich-Lesen, um in Handkes Texten selbst Gegenkräfte freizusetzen, die der romantischen Engführung von Kunst und Politik und der nostalgischen Beschwörung mythischer Identität zuwiderlaufen? Oder ist vielmehr eine Art Bruch bzw. Kontrapunkt vonnöten, indem man dem Appell an die Große Literatur eine „kleine Literatur“ (Gilles Deleuze) entgegenstellt? Daran anschließend wurde darüber gesprochen, inwieweit überhaupt ein Lesen möglich ist, das versucht, die politischen Implikationen und Konsequenzen literarischen Schreibens auf Distanz zu halten. Vogt wendete sich vor diesem Hintergrund eindrücklich sowohl gegen eine hedonistische Ignoranz, die des Genusses an der Lektüre wegen den im Text verkörperten politischen Willen ausblendet, als auch gegen eine Theoriefeindlichkeit, die phantasmatisch auf der ästhetischen Unmittelbarkeit der Leseerfahrung beharrt.

| Sergej Seitz


KURZBIOS

ERIK VOGT

ist Gwendolyn Miles Smith Professor für Philosophie am Trinity College in Hartford.

SERGEJ SEITZ

ist Universitätsassistent (Postdoc) am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.

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