1992 bricht mitten in Europa einer der brutalsten Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Auch dreißig Jahre später sitzen die Wunden noch tief. Während sich die offizielle Erinnerungspraxis oft noch an alten Konfliktlinien orientiert, versuchen Zeitzeug:innen, als auch Kunstschaffende und Schriftsteller:innen die Vergangenheit aus ihrer Perspektive aufzuarbeiten – und damit zur Heilung der Wunden des Nachkriegsbosniens beizutragen.
In diesem Sinne fand 2022 auch in Innsbruck die universitäre Veranstaltungsreihe „Der Bosnien-Krieg 30 Jahre danach: Perspektiven auf ein dialogisches Erinnern“ statt. Im Rahmen dieser organisierten Eva Binder und Ramona Rakić vom Institut für Slawistik eine Exkursion in die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Teilnehmer Philipp Mühlegger hat für komplex einen Gastbeitrag verfasst:

Wir stehen in Grbavica, einem Stadtviertel von Sarajevo. Um uns herum sind Hausfassaden voller Einschusslöcher, auch nach drei Jahrzehnten noch. Hier zeigt uns der bosnische Schriftsteller Damir Ovčina ein Viertel, in dem der Kriegsausbruch 1992 besonders stark zu spüren war. „Im Mai, Juni und Juli herrschte hier der Wilde Westen. Viele Menschen wurden getötet. Die Jahre danach lebte hier kaum noch jemand,“ so der Autor.
Hier siedelt Ovčina die Handlung seines Romans Zwei Jahre Nacht (im Original Kad sam bio Hodža) an – ein Buch, das uns als Vorbereitung auf unsere Bosnien-Exkursion gedient hat. Es ist eine Zeitreise in das zerfallende Jugoslawien der 1990er Jahre. Damals, 1992, erklärt die ehemals jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ihre Unabhängigkeit vom einstigen Vielvölkerstaat. Daraufhin entbrennt ein brutaler Krieg zwischen muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben, angefacht von nationalistischen Politikern.
Die mehrheitlich muslimische Hauptstadt Sarajevo wird von der bosnisch-serbischen Armee beinahe vier Jahre lang belagert. Genau dort lässt Ovčina die Geschichte seines namenlosen Romanhelden spielen. Auf dem Weg nach Hause wird der junge Mann plötzlich von Uniformierten aufgehalten und muss feststellen, dass vor seinen Augen eine neue Frontlinie entstanden ist – und durch die gibt es keinen Weg mehr zurück nach Hause.
Handstreichartig bringen bosnisch-serbische Truppen das Stadtviertel unter ihre Kontrolle. Von da an dient es als Ausgangspunkt für Sniper-Feuer mitten in die bosnische Hauptstadt. Die Scharfschützen schrecken dabei auch nicht vor Zivilisten als Ziele zurück. Ovčinas Romanhelden bleibt nichts anderes übrig, als in Grbavica zu bleiben – dort wird er zum Dienst in einer Arbeitsbrigade zwangsverpflichtet. Die darauffolgenden Monate muss er Leichen von Anwohnern am Hausberg Trebević begraben und alle möglichen Arbeitseinsätze nahe der Front verrichten. Seine einzige Stütze im tagtäglichen Kriegsgrauen ist seine etwas ältere serbische Nachbarin. Sie wird zu seiner Freundin und versteckt ihn später für den restlichen Krieg auf ihrem Dachboden.
Die Geschichte ist zwar fiktiv – frei erfunden ist sie jedoch nicht. „Meine Idee von Literatur ist, dass sie zunächst glaubwürdig sein muss. Viel Literatur geht zu weit – mein Charakter soll eine lebende Person sein,“ erklärt uns Ovčinasein Konzept. Begebenheiten und Personen in seinem Roman basieren oft auf realen Vorlagen und Erinnerungen von Zeitzeugen. So hat Ovčina mit einem ehemaligen Mitglied der Arbeitsbrigade gesprochen. Und so manche Romanfigur basiert auf existierenden Personen. Ein Beispiel ist etwa der Antagonist des Romans, genannt der Bulgare. Er basiert auf dem wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilten Paramilitär Veselin Vlahović alias Batko.
Es sind Aufarbeitungsansätze wie diese, welche im Fokus unserer Exkursion stehen. Als zwölfköpfige Studierendengruppe der Universität Innsbruck wollen wir die Vergangenheitsbewältigung in Bosnien-Herzegowina ergründen. Besonders im Fokus stehen dabei Kultur, Kunst als auch die Literatur, welche die bewegte Vergangenheit des Landes behandeln. Eine kritische Auseinandersetzung mit der gelebten Erinnerungspraxis ist auf unserer Reise unabdinglich.
Denn Orte der Erinnerung gibt es in Bosnien-Herzegowina viele. Ein Beispiel für einen drastischen Ansatz der Vergangenheitsbewältigung stellt das Museum of Crimes against Humanity and Genocide in Sarajevo dar. Dort geht es überwiegend um Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges: Das reicht von brutalen Bildern und Filmaufnahmen von Tötungen bis hin zu diversen Mordwerkzeugen. Mit Modellen werden Konzentrationslager und darin begangene Verbrechen dargestellt. Das private Museum rückt ausschließlich die Gräueltaten des Krieges in den Mittelpunkt – auf die Frage, wer die Einrichtung finanziert, bekommen wir nur ausweichende Antworten.

Es gibt aber auch andere Zugänge der Vergangenheitsbewältigung in Sarajevo, die sich etwa deutlich mehr auf eine Versöhnung im Nachkriegsbosnien konzentrieren. Wir besuchen die KUMA International – eine 2018 gegründete NGO in Sarajevo. Hier geht es darum, sich künstlerisch mit der bosnischen Vergangenheit auseinanderzusetzen – und dabei auch für die Zukunft zu vermitteln. Ihre Leiterin Claudia Zini stammt ursprünglich aus Italien und präsentiert uns die Tätigkeitsfelder der Organisation. Diese reichen von Summer Schools bis hin zu Beteiligungen an Kunstprojekten. Eines, das zuletzt für große Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist Our Family Garden von Smirna Kulenović. In diesem Projekt haben Frauen aus aller Welt Ringelblumen in den einstigen Schützengräben des Bosnien-Krieges oberhalb von Sarajevo gepflanzt – als Zeichen für Frieden und Vermittlung im Nachkriegsbosnien.
Auch wir statten der Aktion einen Besuch ab. Die fantastische Aussicht auf Sarajevo mischt sich hier mit den verwildernden Spuren des Krieges: Die Schützengräben sind längst halb zugeschüttet und zugewachsen, zeugen aber auch heute noch eindrucksvoll von dem, was vor 30 Jahren war. Wie eine Narbe ziehen sie sich durch den sonst so friedlichen Wald über der bosnischen Hauptstadt. Darüber, entlang der Gräben, blühen wie gelbe Punkte Kulenovićs Ringelblumen. Der friedliche Schein trügt aber: Denn auch, wenn Entminungsdienste längst die Felder geräumt haben, können Landminen auch 30 Jahre nach dem Krieg hier nicht ausgeschlossen werden. Auf Entdeckungstouren abseits ausgetretener Pfade verzichten wir daher.
Erinnerungen an Srebrenica
Das mit Abstand bekannteste wie auch beklemmenste Denkmal des Bosnien-Krieges besuchen wir jedoch am Tag darauf. In einer mehrstündigen Fahrt begeben wir uns nach Srebrenica. Hier erinnert ein großer Denkmalkomplex an das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ausgangspunkt der Ereignisse ist eine unscheinbare, stillgelegte Fabrik für Autobatterien, die damals von niederländischen UN-Truppen als Basis genutzt wurde. Obwohl Srebrenica während des Krieges unter dem Schutz der UN stand, übernahmen bosnisch-serbische Truppen unter der Führung von General Ratko Mladić im Juli 1995 die Kontrolle über die Stadt. Tausende suchten daraufhin Schutz in der UN-Basis – darunter der damals 13-jährige Azir Osmanović. „5.000 bis 6.000 Menschen harrten tagelang in dieser Halle aus – die Niederländer nutzten sie eigentlich, um ihre Fahrzeuge hier abzustellen“, erinnert er sich, während er uns durch das Gebäude führt. Azir weiß, wovon er redet – nur knapp entkam er selbst damals dem Massaker.
Die UN-Truppen gaben nämlich widerstandslos den Forderungen von Mladić nach und überließen die Menschen seinen Truppen. Was danach folgte, wird heute von UN-Gerichten als Genozid eingestuft: Innerhalb weniger Tage wurden 8.000 muslimische Männer und Jungen systematisch ermordet. Heute erinnert ein großer Denkmalkomplex mit 6.000 Gräbern an die Ereignisse vor 27 Jahren – frische Gräber zeigen, dass er weiterhin um neu gefundene Opfer ergänzt wird. Weiterhin werden auch deren Überbleibsel in den umliegenden Wäldern gefunden.

Das Thema soll uns auch zurück in Sarajevo noch beschäftigen. Am Tag darauf treffen wir nämlich einen weiteren Zeitzeugen – Hasan Nuhanović. Als ehemaliger Dolmetscher der UN-Blauhelme erlebte er die Ereignisse in Srebrenica hautnah mit. Auch seine Familie war unter den Flüchtenden, die sich dort Schutz vor Angriffen erhofften. „Wir fuhren mit dem Boot nach Srebrenica. Im Fluss schwammen zahlreiche Leichen. Denn in Višegrad hatte es ein Massaker gegeben“, erinnert sich Nuhanović an seine Flucht.
Angekommen in Srebrenica nutzte er seine eigenständig erworbenen Englischkenntnisse und nahm bei den vor Ort stationierten Blauhelmen eine Stelle als Dolmetscher an. Bald übersetzte Nuhanović sogar bei Verhandlungen der UN-Truppen mit der serbischen Konfliktpartei. Und er übersetzte im Juli 1995 vor tausenden Schutzsuchenden in der UN-Basis eine folgenschwere Entscheidung der Niederländer: „Schließlich sagten sie zu allen ‚Leave the Base‘. Ich übersetzte das.“ Auch Nuhanović verlor Familienmitglieder beim Massaker von Srebrenica. Er und 28 weitere Bosniaken überlebten nur, weil sie als UN-Mitarbeiter in der Basis bleiben durften.
Nuhanović brachte seine Erinnerungen später in im Buch Under the UN flag: the international community and the Srebrenica genocide zu Papier. Später dienten sie als Vorlage für den preisgekrönten Film Quo Vadis, Aida? von Jasmila Žbanić – und lieferten so reichlich Konfliktstoff. Denn bei der Frage, wie weit die künstlerische Freiheit der Regisseurin bei der Umsetzung seiner Erinnerungen in ein Drehbuch gehen sollte, waren sich Nuhanović und Žbanić uneinig. Dies führte dazu, dass heute eine fiktive Familienmutter als Protagonistin seine Rolle im Film einnimmt.
Die Bob-Bahn und ihre Verbindungen zu Innsbruck
Eine nicht unerhebliche Rolle spielt in der Exkursion auch der Besuch von erhaltenen Schauplätzen des Krieges. Beispielhaft dafür ist der enge unterirdische Tunnel, welcher der Stadt während der Belagerung als Lebensader diente. Heute sind ein Teil davon, sowie der Eingang und das daneben liegende Haus im Originalzustand erhalten. Die Zeit ist hier gefühlt stehen geblieben. Noch stärker drängt sich dieser Eindruck bei der Bob-Bahn auf. Sie wurde für die Olympischen Winterspiele 1984 oberhalb von Sarajevo angelegt. Seit dem Krieg ist sie aber nur noch eine Betonruine – trotzdem oder genau deswegen, ist sie zu einer Sehenswürdigkeit der Stadt und zu einem Ort der Erinnerung geworden.

Trotz aller Unterschiede haben Sarajevo und Innsbruck einige Gemeinsamkeiten. Was der Inn in Innsbruck ist, ist die Miljacka in Sarajevo. Beide Städte liegen in den Bergen und waren Austragungsort von Olympischen Winterspielen. Was die Sprungschanze oberhalb von Innsbruck ist, dürfte früher die Bob-Bahn oberhalb von Sarajevo gewesen sein. Und mit den Siedlungen von Dobrinja hat auch Sarajevo ein Olympisches Dorf.
Und doch fallen die Unterschiede ebenfalls sofort ins Auge – das beginnt allein schon mit der bewegten Vergangenheit der Stadt, allem voran den jüngsten Krieg, der Sarajevo bis heute verfolgt. Und Sarajevo ist ein buntes Sammelsurium von Einflüssen verschiedener Kulturen: Von der türkisch geprägten Baščaršija mit ihren Moscheen, über k.u.k Gebäude wie dem Rathaus, bis hin zu kommunistischen Bauten in der Nähe des Flughafens. Von den arabischen Schriftzeichen auf den Grabsteinen muslimischer Friedhöfe bis hin zur kyrillischen Schrift auf serbischen Aufschriften. Sarajevo ist ein Ort bewegter Geschichte und Schmelztiegel der Kulturen – und damit ein lohnendes Ziel für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Exkursion der Universität Innsbruck.
| Philipp Mühlegger
Die Exkursion fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Der Bosnien-Krieg 30 danach: Perspektiven auf ein dialogisches Erinnern“ statt. Besonderer Dank gilt den Organisatorinnen Eva Binder und Ramona Rakić, sowie den teilnehmenden Studierenden Thomas Ritzenfeld, Katharina Kneidinger, Noeli Kato, Hanna Niederkofler, Barbara Hendler, David Perić, Srdjan Mandić, Andreas Bäuchler und Alexander Löffler.
Philipp Mühlegger
hat Studiengänge in Politikwissenschaft und Slawistik an der Universität Innsbruck absolviert. Seine besondere Begeisterung gilt den Sprachen und Kulturen Ost- und Südosteuropas. Heute arbeitet er als Redakteur bei den Servus Nachrichten und setzt seine Leidenschaft für Politikwissenschaft in einem PhD-Studium fort.