„Warum ein russischer Autor jetzt? Nicht die russische Literatur, führte zum Massaker von Butscha*, sondern (…) ihre Unterdrückung – die Denunziationen oder Buchverbote gegen Fjodor Dostojewski und Michail Bulgakow, Vladimir Nabokow und Joseph Brodski, Anna Achmatowa und Andrej Platonow; die Hinrichtungen von Nikolai Gumilev, Isaac Babel und Perez Markish; die Vertreibung von Marina Tsvetaeva in den Selbstmord; die Verfolgung von Osip Mandelstam und Daniil Kharms; die Verfolgung von Boris Pasternak und Aleksandr Solzhenitsyn. Die Geschichte der russischen Kultur ist eine Geschichte des verzweifelten Widerstands gegen eine verbrecherische Staatsmacht, vernichtenden Niederlagen zum Trotz.“
– Mikhail Shishkin, „Don’t blame Dostoyevsky“, 2022

*Als Massaker von Butscha wird eine Reihe von Kriegsverbrechen in der Stadt Butscha, einem Vorort von Kiew, bezeichnet, die im Frühjahr 2022 während der Schlacht um Kiew durch Angehörige der russischen Kriegspartei an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen wurden.
Daniil Charms wurde 1905 in St. Petersburg geboren und unterlag als Autor einem totalitären Regime. Seine Texten reagierten auf den Umbruch der zaristischen Epoche in die kommunistische sowie auf deren Übergang in die stalinistische; sie brachten die Absurditäten in der Sowjetunion so auf den Punkt wie kaum ein anderer Text. Immer wieder tauchte auch das Motiv der Verhaftung auf. So wurde die Veröffentlichung seiner Texte größtenteils verboten und er wurde schließlich sogar zweimal selbst verhaftet. Heute sind seine Texte in Russland wieder verboten.
Dadaistische und humoristische Elemente beherrschen seine Werke. Der Charms-Übersetzer Peter Urban sagte einmal: „Aber dieser Russe sagt eben doch ganz klar: nicht seine Sachen sind alogisch oder absurd, sondern das Leben, das er beschreibt: das ist das eigentlich Absurde.“ Diese Interpretation hätte Charms vermutlich gefallen.
In den 30er Jahren verwob Charms auf engstem Raum Alltagssatire, Nonsens-Dichtung und das existenzielle Spiel miteinander. Er nannte diese Texte „Fälle“ und sie waren nicht weniger als Höhepunkte der Moderne des 20. Jahrhunderts, kleine, poetische, absurde Skizzen, in denen er die Leere dieser sowjetischen Epoche reflektierte und dem Terror mit einer eigenwilligen Weiterführung der avantgardistisch-revolutionären 20er Jahre antwortete.
Der Regisseur Dietmar Gamper hat liebevoll und gewissenhaft Fragmente aus Charms’ Texten zu einem neuen Stück vereint, es passenderweise „Zwischenfälle“ getauft und auf die Bühne der Brixner „Dekadenz“ gebracht. Es spielen Frederick Redavid, Markus Oberrauch und Margot Mayrhofer – letztere verkörpert Charms höchstpersönlich. komplex hat sie und den Regisseur zu dieser besonderen Produktion befragt.

komplex: Dietmar, das Stück „Zwischenfälle“ kann als Hommage an Daniil Charms gesehen werden, als kleine Liebeserklärung. Warum schätzt du Charms so sehr?
Dietmar Gamper: Weil Charms durch die Absurdität jede Bedrohung ins Lächerliche führt.
k: „Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung“, sagte Charms. Stimmt das? Oder beschäftigen sich seine Werke vielmehr mit zutiefst Existentialistischem?
D.G.: Glaub ich nicht. Ich glaube, dass es tatsächlich Quatsch und Nonsens ist, aber alles was uns bewegt, fließt auch irgendwie in unsere Arbeit mit ein und wir als Rezipienten interpretieren auch Existentialistisches in jedes Werk hinein.
k: Welches Statement setzt du, indem du in diesen Zeiten einen russischen Autor auf die Bühne bringst?
D.G.: Ich möchte in erster Linie zeigen, dass nicht die Russen per se die bösen Verbrecher sind, wie vielleicht oft durch Medien suggeriert wird oder Menschen aus den Medien entnehmen möchten. Sondern dass das russische Volk und die russische Kultur genauso ein Opfer von Putin sind.
k: Der Autor war Gründungsmitglied der avantgardistischen Künstlergruppe OBERIU, die 1930 nach zwei Jahren verboten wurde; erst in der Perestroika wurden die Texte dann wiederentdeckt und gelangten endlich an die Öffentlichkeit. Leider sind hier klare Parallelen in die Gegenwart erkennbar. Was können wir durch seine Geschichte, durch seine Werke heute lernen?
D.G.: Dass technischer Fortschritt nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit geistigem und sozialem Fortschritt.
k: Du hast gesagt, du wünscht dir sehr, dass die Haltung, die ihr spürt, auf die Zuschauer:innen übergeht. Was ist das für eine Haltung? Wofür steht Charms für dich?
D.G.: Charms steht für mich dafür, keine Bedrohung ernst zu nehmen. Oder wie Karl Kraus es sagte: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst.“ Es gibt nichts Entwaffnenderes als jemanden nicht ernst zu nehmen und über ihn zu lachen. Es ist so schwierig, unter Bedrohung nicht ernst zu sein, aber Daniil Charms hat es geschafft.

k: Margot, das Stück hat ja stark biografische Bezüge zu Daniil Charms. Wie ist es für dich, diesen Menschen zu verkörpern, wenn man um sein Leben und seine damalige Situation weiß?
M.M.: Daniil Charms hat sich mit seiner Kunst gegen das System aufgelehnt, wurde verhaftet, hat trotzdem weitergemacht. Diese „und jetzt erst recht“-Haltung ist bewundernswert und erschütternd zugleich, das vergisst man auch beim Spielen nicht. Aber seine Texte sind so komisch und absurd, dass sie trotz allem jegliche Ordnung und Logik beiseite schieben und auf Akteure und Publikum regelrecht befreiend wirken. Man lacht, spürt aber die Schwere im Hintergrund – da Charms zur Zeit ja in Russland verboten ist, umso deutlicher.
k: Ist es dir bzw. euch wichtig, ihn „wirklichkeitsgetreu“ darzustellen? Kann das überhaupt gelingen, wenn man selbst diese Zeiten nicht miterlebt hat?
M.M.: Nein, das wäre ja anmaßend und ist auch nicht unser Ziel. Wir versuchen auch gar nicht, den Menschen Charms naturalistisch abzubilden, seine Auftritte in unserer Inszenierung zeigen immer eine Kunstfigur. Wenn man seinen Humor und die Absurdität in seinen Texten ernst nimmt, sprechen sie für sich und erzählen eine ganze Welt – das Dunkle dieser Zeiten spürt man dann automatisch.
k: Worin lag für dich die größte Herausforderung, diese Figur zu verkörpern?
M.M.: Es war weniger die Herausforderung, die Figur zu verkörpern, als die, in diese Absurdität reinzufinden. Offen zu sein für diesen Quatsch, wie er selbst behauptet, sich loszulösen von jeglichem strukturellen, logischen Denken und dem Drang, alles verstehen zu müssen, sich ungefiltert diesem Quatsch hinzugeben. Je mehr man sich mit Charms beschäftigt und die Hintergründe kennt, desto mehr spürt man aber auch die Gefahr und den Druck wabern, die darunter liegen und umso mehr hat man das Gefühl, dass dieser Quatsch durch einen Selbsterhaltungstrieb motiviert ist. Humor kann einen in eine Leichtigkeit hineinbringen, die man gerade dringend braucht, wenn er als Flucht nach vorne gesehen wird.
| Sarah Caliciotti