Fotografin Melanie Sapina hat uns für die neunte komPOST-Ausgabe ausdrucksstarke Bilder aus Bosnien eingesandt – wir haben sie mit einem Gedicht von Annabel Herkströter kombiniert:
Backyard of Europe
von Melanie Sapina, 2020


Ein Gefühl aus Papier
von Annabel Herkströter, 2021
I
Was ist die Persönlichkeit
hinter den ausdrucksstarken Augenbrauen
Verweste Plakate zeichnen lächerliche Fratzen
Ich will so gerne für dich schwärmen
aber wie denn
Böse und Gut sind da, wo der Wetterhahn grad hinguckt
In dem Gemurmel zwischen den Zeilen
versteht man auch nichts
Nur eine verblichene Fotografie aus unbekannten Tagen
ist noch ehrlich

II
Es riecht nach bedrucktem Hochglanzpapier
Meine kindische Erwartung
saust und braust
durch die Klüfte zwischen den faden Betonklötzen
Besser du bist weit weg
nur so kann mein Traum überleben

III
Von außen hast du diesen Anstrich
Du bist anders als gedacht
mal schöner, mal weniger
Dumme Sätze auf knittrigen Seiten
lassen wir wie Schwalben
durch die Gegend fliegen


Zu den Fotografien von Melanie Sapina
Eine junge Deutsche aus dem sogenannten Herzen Europas begibt sich dorthin, wo der Puls des Lebens ein anderer ist – der Weg der Fotografin Melanie Sapina führte nach Sarajevo. Ihre Fotografien dokumentieren eine Reise auf der Suche nach den Quellen, von denen ihre familiären Wurzeln abhängen. Melanie Sapinas Vater stammte aus Bosnien und lebte in Deutschland. Mit dem Tod des Vaters ging die Anteilnahme der Tochter an seinem Sterben über in ihre Anteilnahme an seinem fremden Leben in der ehemaligen Heimat. Auf den Koordinaten von Vaterland und Muttersprache begegnete Melanie Sapina eine Welt, die sich in der Mitte Europas politisch, wirtschaftlich und kulturell in eine zentrale Randlage gedrängt sieht. Die Psychogeographie dieses Kulturraums ist übervoll an Geschichte, auch an jüngster Geschichte. Die Belagerung Sarajevos während des Jugoslawienkrieges fand 1996 nach beinahe vier Jahren ihr Ende. Krieg und Tod überwindend, erstehen die Stadt und das Land allmählich neu. Die Einschusslöcher an den Fassaden sind heute der äußere Ausdruck innerer Kriegsschauplätze, Traumata und Ängste rühren unmittelbar aus dem Schrecken und aus dessen trauriger Nachhaltigkeit. Weiche Übergänge gibt es nicht, die bosnische Gesellschaft scheint immer noch belagert, sie ist besetzt von Erinnerungen und vom Albtraum regionaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Zugleich besteht der Wunsch, von ihren europäischen Nachbarn nicht ausschließlich über den Krieg wahrgenommen zu werden. Dabei ist nicht klar, was an Stelle dieser Wahrnehmung treten soll, denn die Indifferenz staatlichen Handelns ist verantwortlich für fehlende Perspektiven, für Drogenkonsum, für Resignation, für innergesellschaftliche Konflikte.
Die Kontrastfotografie Melanie Sapinas stellt in ihrer Intensität eine direkte Spiegelung gesellschaftlicher Brüche dar. Da, wo die Geschichte weiche Übergänge nicht zuläßt, herrschen scharfe Kontraste, welche die Menschen, insbesondere die Jugend Sarajevos, mit schwarzem Humor ertragen und zwischen Stillstand und Aufbruch vielleicht auch produktiv machen. Die Fotografin Melanie Sapina zeigt das bunte Grau des Lebens nicht durch einen Farbfilter, aber ungeschminkt. Denn besteht nicht die Gefahr, daß Farbfotografie selbst da noch schönt, wo die Farben nicht leuchten? Die sensitive Härte ihrer Portraits von Menschen und von den Häusern der Menschen lenken den Blick von der Schwelle des familiären Hintergrunds der Fotografin auf ihren aktuellen Vordergrund. Die Serie „Backyard of Europe“ kennzeichnet den Beginn einer erwachenden Liebe, einer Selbstentfremdung, denn in Folge einer inneren Grenzverschiebung schlägt das Herz Europas für Melanie Sapina nun an dessen Rand. Der Sprachraum ihrer Herkunft wird zum Seelenraum ihrer Zukunft. Melanie Sapinas Fotografien der Menschen Sarajevos sind daher Selbstportraits.
Text von Henryk Gericke
Kurzbios
Melanie Sapina
ist 1991 in Bochum geboren, ist Fotografin und lebt in Berlin. 2019 Absolventin für Fotografie am Lette Verein Berlin. Die Arbeit und Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Themen ist ihr bevorzugtes Arbeitsfeld. Vor allem die Jugendkultur und Ihre Formen an verschiedenen Orten, besonders im ehemaligen Jugoslawien/Balkan liegen im Fokus. Bilder Ihrer Serien wurden bereits in diversen Magazinen (u.a. wbg-Magazin, Chrismon Plus Magazin Lodown Magazin, Ascension Magazine, i-D Magazine Vice) veröffentlicht.
melaniesapina.com // @melaniesapina
Annabel Herkströter
geboren in Südtirol, studiere Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck